Börsen-Zeitung: Kaesers Grundgesetz
Archivmeldung vom 02.08.2018
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Freigeschaltet durch André OttNun liegt das Vermächtnis von Joe Kaeser auf dem Tisch. Der Siemens-Aufsichtsrat hat die neue Strategie des Vorstandsvorsitzenden am Mittwochnachmittag genehmigt. Weil Kaeser schon vor einigen Wochen seinen Abschied für das Jahr 2021 öffentlich angekündigt hat, wird das Konzept mit dem Namen "Visions 2020+" den Konzern über seine Amtszeit hinaus prägen. Es ist sein Erbe.
"Visions 2020+" erscheint auf den ersten Blick unspektakulär. Zwar wird die Zahl der Industriesparten reduziert, es soll nur noch drei operative Geschäftsfelder geben. Doch derartige Umstrukturierungen leistet sich Siemens mehrmals im Jahrzehnt, letztmals wurde der Konzern im Oktober 2014 umgekrempelt. Die neue Führungsstruktur mag ein Einschnitt sein, aber auch im Mai 2014 hat die damals verkündete "Vision 2020" vielfältige Personaländerungen gebracht.
Die "Vision 2020+" ist also keineswegs revolutionär. Dies offenbart bereits der Name des Konzepts. Trotzdem steckt in den Leitlinien der Geist einer Revolution. Denn erstmals bekennt sich die Verwaltung des Konzerns zu Kaesers Konzept, das Konglomerat aufzulösen. Zur Erinnerung: In der "Vision 2020" findet sich hierzu kein einziges Wort. Der Vorstandschef hat mittlerweile trotzdem Fakten geschaffen. Der Bau von Windkraftanlagen und künftig die Bahntechnik sind in eigenständigen Unternehmen gebündelt. Indem der Aufsichtsrat nun qua Spartenneuordnung die Konzentration auf wenige Aktivitäten festschreibt und die Münchner Zentrale verkleinert, segnet er Kaesers Vorgehen ab. Das Wortungetüm "Operating Companies" für die drei Sparten spricht Bände: Ziel ist eine größere unternehmerische Freiheit.
Klar ist aber auch: Kaeser hätte sich nicht nur den Geist der Revolution, sondern umwälzende Taten gewünscht. Der Manager steht vor einem Paradox: Obwohl er einst als Erster der Auflösung von Konglomeraten das Wort redete, führt er weiterhin einen Gemischtwarenladen. Schließlich liegt die Mehrheit an Windkraft und Bahntechnik in München. General Electric und Philips dagegen gelingt die Fokussierung schneller. Sie konnten anders als Siemens wirtschaftliche Notlagen nutzen, den Umbau intern durchzusetzen.
Mit der "Vision 2020+" hat Kaeser daher sein Erbe nicht festgeschrieben, sondern eine Art Grundgesetz vorgelegt. Denn das Konzept ist flexibel und anpassungsfähig. Es ist kein Endzustand, sondern bietet viele Möglichkeiten, erneut mit Taten zu überraschen.
Quelle: Börsen-Zeitung (ots) von Michael Flämig