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Berliner Morgenpost: Das Phänomen der Schwarzmalerei

Archivmeldung vom 06.12.2008

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 06.12.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Einer der spannendsten Versuche der Motivationspsychologie ist das sogenannte Rosenthal-Experiment. Als junger Harvard-Professor besuchte der in Deutschland geborene und vor den Nationalsozialisten in die USA geflüchtete Forscher Robert Rosenthal in den Sechzigerjahren eine Volksschule in einer sozial schwachen Gegend San Franciscos.

Dem Direktor erklärte Rosenthal, er habe eine Methode erfunden, mit der er vorhersagen könne, welche Schüler alsbald besonders große Lernfortschritte machen würden. Beeindruckt verfolgten die Lehrer die Tests des großen Professors. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit verriet Rosenthal den Klassenlehrern schließlich, welche drei Schüler sich hervortun würden. Dann verschwand der Forscher. Als er nach acht Monaten zurückkehrte, hatten sich viele seiner Prognosen als zutreffend erwiesen. Viele der Kinder waren tatsächlich besser geworden. Der Witz war nur: Rosenthal hatte gar kein Verfahren entwickelt und die Schüler nur zum Schein getestet. Er hatte Schüler nach dem Zufallsprinzip ausgewählt. Rosenthal wollte das Phänomen der sich selbst erfüllenden Prophezeiung beweisen. Allein die Tatsache, dass die Lehrer einer Prognose glaubten, hatte die Schüler besser werden lassen. Offenbar hatten die Pädagogen den vermeintlich Talentierten etwas aufmerksamer zugehört, Fragen gestellt oder beantwortet, sich ein bisschen mehr gekümmert. Der Glaube schuf Realität. Der Rosenthal-Effekt ist seither in vielen Experimenten bestätigt worden: Wenn eine Gruppe oder ihre Anführer an eine bessere Zukunft glauben, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass es auch so kommt. Allerdings funktioniert der Effekt auch umgekehrt: Die kollektive Angst vor einer nahenden Katastrophe macht dieselbe womöglich schlimmer, als sie letztendlich wird. Wie in den Jahren 2003 und 2004 redet sich Deutschland derzeit wieder einmal systematisch in den Abgrund. Damals rief Professor Sinn das Ende des Standorts Deutschland aus, der Bestseller zum Blues hieß: "Deutschland - Der Abstieg eines Superstars". Zweifelsohne steht die Welt vor schweren Zeiten. Zugleich stimmt aber auch: Viele Länder der Welt sind deutlich schlechter für diese Krise aufgestellt. Der derzeitige Wettkampf von Politik, Bankern und Wissenschaftlern, wer das grausigste Untergangstremolo anstimmt, erzeugt einen negativen Rosenthal-Effekt. Statt an die eigenen Fähigkeiten zu glauben, orakelt sich ein Land in die Angststarre. Der Einkaufsgutschein-Irrsinn beflügelt die Ängste noch: Die einen fragen sich, warum sie heute einen Fernseher kaufen sollen, den sie alsbald womöglich geschenkt bekommen? Die anderen fühlen sich an Lebensmittelkarten und Nachkriegselend erinnert. Lähmung erstickt Entschlossenheit. Wenn Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu 50 Prozent von Psychologie bestimmt sind, dann sollten die schwarzmalenden Eliten dringend auf die Couch. Zuversicht und Zusammenhalt sind gefragt, nicht Düsternis.

Quelle: Berliner Morgenpost

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