Leipziger Volkszeitung zum WTO-Gipfel:
Archivmeldung vom 19.12.2005
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittSchwach und zahlreich gegen stark und wenig: Es war nur eine Frage der Zeit, wann die Schieflage des Kräfteverhältnisses zwischen den 110 Entwicklungsländern und den Industriestaaten die Verhältnisse in der Welthandelsorganisation WTO zum Tanzen bringen würde. In Hongkong hat nun der überfällige Machtwechsel stattgefunden:
Zum ersten Mal seit WTO-Gründung 1995 geben die
Entwicklungs- und Schwellenländer die Richtung vor.
Dabei ist weniger der Kompromiss über die bis 2013 auslaufenden
Agrar-Exportsubventionen der reichen Länder ein Erfolg. Das Ende der
Ausfuhrhilfen war ohnehin überfällig. Und die Industrieländer werden
auch weiterhin auf Entwicklungsländerprodukte viermal höhere Zölle
als auf Produkte aus anderen Industrieländern erheben. Rein formal
geht der "Hongkonger Putsch der Habenichtse" zudem auf ein
demokratisches Prinzip der WTO zurück. Anders als die beiden anderen
großen globalen Institutionen Weltbank und Internationaler
Währungsfonds verfügt in der WTO jedes Mitglied unabhängig von Größe
und Wirtschaftskraft über nur eine Stimme.
Neu ist vor allem, dass die Spielregeln der Globalisierung nicht mehr
allein von den wohlhabenden Mitgliedern aufgestellt werden. Wichtige
Entscheidungen fallen künftig im Interessenabgleich zwischen der EU,
den USA und den großen Entwicklungsländern. An der Allianz um
Brasilien und Indien führt so leicht kein Weg mehr vorbei. Aus die
Zeiten, als die Vertreter der ersten Welt Regeln aufstellten, nach
denen gehandelt wurde, Zollsätze und Importquoten festlegten und
bestimmten, wer Zugang zu welchen Märkten bekam. Gerecht und gut war
vor allem, was den Industrieländern nutzte. Der Grundgedanke der WTO
- Linderung der Armut durch fairen Handel - verkam zum Feigenblatt,
das nur notdürftig den Abstieg der meisten Länder des Südens
verdeckte. Während eine europäische Kuh täglich mit zwei Dollar
subventioniert wird, müssen 852 Millionen Menschen mit weniger als
einem Dollar pro Tag auskommen.
Die Behauptung der Industriestaaten, dass die Globalisierung mit
wenigen Ausnahmen Wohlstand für alle bringt, und dass Länder, denen
die Globalisierung bisher keinen Wohlstand gebracht hat, nur noch
nicht genug globalisiert sind, hat sich als falsch erwiesen. Hongkong
markiert die Verschiebung der Perspektive: Die Forderung der
Entwicklungsländer - Zugang zu den Märkten des Nordens, ohne Zölle
und ohne Quoten - wird in Zukunft die Agenda bestimmen.
Fraglich bleibt allerdings, wie lange die in Hongkong geschmiedete
Allianz der Entwicklungsländer hält. Noch kaschiert der gemeinsame
Gegner "reicher Norden", dass auch im Lager "armer Süden" die
Ungleichheit wächst. Schwellenländer wie Brasilien, Indien und
Südafrika sind auf dem Sprung in die Liga der Industriestaaten.
Werden sie sich nach erfolgtem Aufstieg noch an ihre einstigen
Mitstreiter erinnern?
Quelle: Pressemitteilung Leipziger Volkszeitung