BERLINER MORGENPOST: Die Lehre aus Contergan
Archivmeldung vom 17.09.2019
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Freigeschaltet durch André OttWenn Erwachsene durch einen Unfall einen Finger, eine Hand oder andere Gliedmaßen verlieren, ist das ein Schock und oft mit großem Leid verbunden. Die Betroffenen müssen lernen, mit der Behinderung zu leben. Sie müssen ihren Alltag oft völlig neu organisieren.
Auch für Eltern eines Säuglings muss es ein Schock sein, wenn ihrem neugeborenen Kind eine Hand fehlt. So ist es drei Elternpaaren ergangen, deren Nachwuchs in diesem Sommer in einem Gelsenkirchener Krankenhaus zur Welt kam. Anders als bei einem Unfall, bleibt aber die Frage nach dem Warum bisher unbeantwortet. Wie kann es sein, dass ein Kind ohne Hand zur Welt kommt?
Wie kann das dreimal in einem Jahr im selben Krankenhaus auftreten? Diese Fragen sind allzu berechtigt. Nachdem der Fall öffentlich geworden ist, melden sich immer mehr Eltern aus anderen Teilen Deutschlands, deren Kinder das gleiche Schicksal haben. In einigen Fällen deutet sich eine sonderbare Häufung an wie in Gelsenkirchen. Ist das Zufall? Oder gibt es einen Grund, den noch keiner kennt? Es werden Erinnerungen wach an den Contergan-Skandal. Damals, Ende der 50er- und zu Beginn der 60er-Jahre, löste ein Medikament mit diesem Namen massenhaft Fehlbildungen bei Neugeborenen aus. Die Entdeckung des Zusammenhangs dauerte mehrere Jahre, die juristische Aufarbeitung sogar mehrere Jahrzehnte. Das Verhalten der Bundesregierung, der Bundesländer und anderer staatlicher Stellen war damals alles andere als vorbildlich. Diese Erfahrungen wirken nach.
Gerade wegen des Contergan-Skandals finden die aktuellen Fälle von Fehlbildungen so große Aufmerksamkeit. Gerade deshalb macht sich Misstrauen breit, wenn staatliche Stellen erst einmal in Ruhe die Ursache für die Fehlbildungen finden wollen. Dabei ist das systematische Zusammentragen aller Fakten das einzig Sinnvolle - und dringend nötig. Wann und wo wurden Säuglinge ohne Hand geboren? Welche Gemeinsamkeiten verbinden die Eltern? Das ist medizinische Detektivarbeit, die die Mitarbeit aller verlangt: Die betroffenen Eltern müssen sensible medizinische Daten ebenso herausgeben wie die Kliniken. Behörden müssen sie zur Aufklärung sammeln dürfen.
Anders als vor 60 Jahren läuft diese Aufklärung schnell an. Binnen weniger Tage will die Landesregierung in NRW einen Überblick über die Fehlbildungen in dem Bundesland haben. Ärzte und Behörden können und müssen nun zeigen, wie viel sie aus dem Contergan-Skandal gelernt haben. Die medizinische Diagnose "angeborenes Fehlen der Hand" wird seit vielen Jahren von den Kassen statistisch erfasst. Pro Jahr werden in ganz Deutschland zwischen 40 und 70 Babys geboren, denen eine Hand oder einzelne Finger fehlen. Die Zahlen sind für jede Klinik verfügbar. Alle diese Fälle sind tragisch. Ob sie zu wenig ausgewertet wurden und Ärzte zu wenig nach den Ursachen suchten, das alles wird nun Thema werden. Was nicht hilft, sind wahllose Theorien über den Grund der Fehlbildungen. Ist es die Handystrahlung? Ist es das elektromagnetische Feld von modernen Induktionsherden?
Diese Theorien kursieren jetzt tatsächlich. Am Anfang des Contergan-Skandals stand die Vermutung, der Test von Atomwaffen sei schuld an den Fehlbildungen. Am Ende war es ein Medikament gegen Übelkeit. Was auch nicht hilft, sind Gerüchte über angeblich immer neue Fälle von Fehlbildungen oder privat geführte Tabellen und Listen über Fälle, die unbeteiligte Hebammen nur vom Hörensagen kennen. All das passiert aber gerade. Es bewirkt das genaue Gegenteil von Aufklärung. Es schafft Verunsicherung, die niemandem hilft - am wenigsten den betroffenen Eltern.
Quelle: BERLINER MORGENPOST (ots) von Philipp Neumann