Leipziger Volkszeitung zu Ungarn/Lügen-Geständnis
Archivmeldung vom 20.09.2006
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 20.09.2006 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWarum stürmte eigentlich niemand die ARD-Zentrale, um zu protestieren, dass die SPD trotz gegenteiliger Wahlversprechen die Mehrwertsteuer mit anhob? Warum zündet keiner Autos an, weil die Regierung Merkel bisher eher auf der Stelle tritt, statt das Land zu reformieren?
Wohl weil die Politiker aus den Regierungsparteien
lieber wortreich die sich ändernde Realität beschreiben, statt sich
zu ihren Wahlversprechen zu bekennen. So wie es Ungarns Premier
Ferenc Gyurcsany nun tat. Gezwungenermaßen.
Ein aufgezeichnetes Lügengeständnis brachte ihn in die Bredouille,
nicht mehr um die wirkliche Brisanz der Lage herumreden zu können.
Dass einige seiner Landsleute deswegen auf die Straße gehen, liegt
weniger an der Heißblütigkeit der Magyaren. Viele kümmerten sich
resigniert kaum noch darum, was in Budapest entschieden wurde. Sie
versuchen, das Leben zu meistern. Denn Gyurcsanys Sozialisten
verlangen ihnen wegen der hohen Staatsverschuldung einen harten
Sparkurs ab. Dass alle Entbehrungen und Verteuerungen nun immer noch
nicht genügen, weil die Lage schlimmer ist als erklärt, bringt dann
doch viele auf die Palme.
Viele Ungarn kämpfen ums tägliche Überleben. Das einstige
wirtschaftliche Musterland unter den EU-Beitrittskandidaten hat sich
mit über zehn Prozent Haushaltsdefizit zum Sorgenfall entwickelt.
Gyurcsany ist daran genauso schuld, wie die vor ihm regierenden
Konservativen. Dass er die Konsolidierung nicht durch eine
Wahlniederlage gefährdet sehen will und deswegen die Wirklichkeit
frisiert, ist eine Form des Zynismus, die man bisher nur aus einigen
afrikanischen Staaten kannte.
Wer die Unruhen in Ungarn deswegen als exemplarisch für eine
vermeintliche Gefahr hinstellen will, die von neuen EU-Mitgliedern
ausgehe, liegt falsch. Der Osten Europas entwickelt sich. Die
Wirtschaften wachsen stabil - mitunter auch ungeachtet
nationalistisch gesinnter Regierungen wie in Polen und der Slowakei.
Politisch sind diese Staaten zwar nicht mehr instabil, aber immerhin
noch wechselhaft. Den Parteiensystemen fehlt 16 Jahre nach der
politischen Wende von der Diktatur zur Demokratie mitunter noch die
Festigkeit. Meist konkurrieren einstige Kommunisten, angeführt von
weltgewandten, polyglotten Jungkadern mit Konservativen, die
Unternehmer und Oppositionelle vereinigen. Die Wähler vagabundieren
zwischen den verfeindeten Blöcken hin und her. Den Regierungen fehlt
die Zeit, langfristige Reformen anzustrengen. Deswegen sollte man
Osteuropa aber nicht verdammen oder gar vom Einigungsprozess
ausschließen. Die Staaten brauchen die Hilfe aus Brüssel. Die
Fördermittel sind ein zwingendes Argument für eine stetige Anpassung
an Europas Standards. Ganz gleich wer in der Regierung sitzt.
Im Übrigen gibt es Osteuropas Tendenzen abgeschwächt auch im Osten
Deutschlands, wie die letzten Landtagswahlen zeigten. Mit einem
Unterschied zu den einstigen Bruderstaaten, einem eklatanten: In
Osteuropa besteht ein dynamisches Wirtschaftswachstum.
Quelle: Pressemitteilung Leipziger Volkszeitung