Lausitzer Rundschau zum 16. Jahrestag des Mauerfalls: Schutzwall der Lüge
Archivmeldung vom 09.11.2005
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittVon dem Stein, dem Eisen, dem Beton, von dem, was man einst anfassen konnte, wenn man auf der einen Seite lebte und dann in der Nacht vor 16 Jahren zum ersten Mal von beiden Seiten, ist wenig geblieben. Diese Mauer ist Geschichte. Aber was ist noch da von jenem Schutzwall, der gegen die angeblichen Lügen errichtet wurde?
Tatsächlich steht da das Bollwerk in vielen Köpfen
noch fest und unüberwindlich. Und was von ihm widerhallt: Die DDR
wäre vielleicht ein Land, dem man am Ende keine Chance gab, am Anfang
aber war sie voller Hoffnung und Idealismus. Ihr Bildungssystem, ihr
Gesundheitswesen könnten sich in der Rückschau sehen lassen und seien
Vorbild. Es habe Gerechtigkeit gegeben und niemand musste um seine
Zukunft bangen. Die Propaganda aus dem kapitalistischen Westen
dagegen entlarve sich tagtäglich in den Berichten über die
Arbeitslosigkeit, die Armut der öffentlichen Kassen und eine
orientierungslose Jugend. In solchen Gedanken steht sie, die Mauer.
Und sollten wir denen, die sie so noch immer mögen, diese Schutzzone
nicht durchgehen lassen? Es wäre ja des lieben Friedens willen
denkbar, mit solchem eigensinnigen Beharren auf Rückbesinnung zu
leben. Aber die Schattengewächse, die unter dieser Gedankenmauer
gedeihen, gewinnen ein Eigenleben. Wir geraten dann tatsächlich in
Diskussionen darüber, ob wir wieder Schulen wollen wie einst unter
dem strengen Blick der SED. Wir geraten in Gefahr, jenen Aufschrei zu
vergessen, der den Kindern ein Leben ohne Fahnenappell versprach. Die
größte Gefahr allerdings droht noch nicht einmal von solchen
Versuchen, die Zeit zurückzudrehen. Die Suche nach der Wahrheit ist
das größte der Privilegien der Jugend. Davon wird sie sich nicht
abhalten lassen. Sie wird jenseits der Erzählungen von den Nöten der
Aufbaujahre auch die stalinistischen Lager entdecken. Sie wird
jenseits von den Berichten über das sorgenfreie Leben auch die
Bilanzen vorfinden, die zum zwangsläufigen Untergang des Arbeiter-
und Bauernstaates führten. Sie wird jenseits des Schutzwalls die
Landschaften der Lügen sehen, die vor 16 Jahren die Menschen auf die
Straße trieben. Wer sich der Wahrheitssuche der Jungen verweigert,
wer ihnen das Unerklärliche zu erklären versucht, der mag sich für
den Moment sicher fühlen. Was er verspielt, ist der Respekt der
Nachgeborenen.
Quelle: Pressemitteilung Lausitzer Rundschau