DER STANDARD-Kommentar: "Kein Diktat des Geldes"
Archivmeldung vom 24.12.2011
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittVáclav Havel war nicht nur der "samtene Revolutionär", er war ein Visionär, der die Sehnsucht der Menschen in Worte zu kleiden verstand und ihnen Leitlinien mit auf ihren Weg gab. Er stand für seine Ideale ein, musste ins Gefängnis. Havel war ein Vorkämpfer für Freiheit und Demokratie - Werte, die 22 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs in Zeiten der Terrorbekämpfung und der Wirtschaftskrise an den Rand gedrängt werden.
Die Massen von Menschen in Tschechien, die Abschied von ihrem "Dichterpräsidenten" nahmen, und die zum Requiem angereiste weltpolitische Elite erwiesen einem Mann die letzte Ehre, der - wie kaum ein anderer - für sich in Anspruch nehmen kann, moralische Instanz (gewesen) zu sein. Sein Streben nach Freiheit, sein "Versuch, in der Wahrheit zu leben", war Anstoß für viele. Wir leben in einer Zeit, in der die Strahlkraft freiheitlicher, repräsentativer Demokratie zu verblassen droht. Immer mehr Bürger ziehen sich zurück; Politikerverdrossenheit verbreitet sich. Sie mündet häufig in Resignation. So werden aus Wutbürgern Abwinker. Der Rückgang der Beteiligung bei Wahlen und Volksbegehren zeugt davon. Die Hoffnung auf Anstand wurde oft enttäuscht: durch das Verhalten mancher Vertreter der Wirtschaftselite und Politiker (in Deutschland aktuell Christian Wulff, in Österreich Karl-Heinz Grasser), die am Profit für wenige statt Wohlstand für viele interessiert sind. Das Triple-G dominiert: Geld, Geiz, Gier. Computersteuerungen, die von Menschen nicht mehr beeinflusst werden können, führen zu immer komplexer werdenden Vorgängen des globalisierten Kapitalismus und erzeugen Ohnmacht. Dazu kommen die Veränderungen des Kommunikationsverhaltens, die zu wachsender Unsicherheit rund um den Globus beitragen. Gerade in solchen Phasen wächst die Sehnsucht nach Orientierung, nach Ordnung, nach Einordnung. Heute - mehr denn je - braucht es aufgeklärte Politiker, die mutig und entschlossen sind, in einer repräsentativen Demokratie die Interessen der Bürger durchzusetzen und Märkten Grenzen zu setzen. Dies bedingt, Machtinteressen hintanzustellen, grenzüberschreitende Lösungen zu suchen und Wege aufzeigen: wie das Gemeinwohl in Zeiten der Profitorientierung gewahrt werden kann, wie Gerechtigkeit und Fairness in einer zunehmend auseinanderdriftenden Gesellschaft gewahrt werden können, wie ein Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie erfolgen kann. Es geht auch darum, demokratische Werte wie Freiheit zu verteidigen - gerade in_Zeiten des Antiterrorkampfes. Es braucht auch Bürger, die diese Werte und Grenzen einfordern. Sich bequem zurückzulehnen und nur zu kritisieren, das ist eine gerade in Österreich beliebte Form der Couch-Demokratie. Aber das reicht nicht aus, wenn Bürger etwas erreichen und vor allem ändern wollen. Die 89er-Revolution hat ihre Dynamik erst entwickelt, als sich die Menschen vom Wohnzimmer auf die Straße bewegt haben. "Solange wir um die Freiheit kämpfen mussten, kannten wir unser Ziel. Jetzt haben wir die Freiheit und wissen gar nicht mehr so genau, was wir wollen", beschrieb Havel zur Jahrtausendwende diese Orientierungslosigkeit. Zehn Jahre später ist das neue Ziel klar: Gerechtigkeit. Oder anders ausgedrückt: ein fairer Ausgleich, kein Diktat des Geldes.
Quelle: Der Standard (ots)