Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Thema Missbrauch
Archivmeldung vom 08.03.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDie Odenwaldschule wird nicht die letzte sein, die ihre Chronik zum anstehenden Jubiläum korrigieren muss. Die Namen mancher als Vorbild für die Gesellschaft dargestellter Pädagogen, die von nicht wenigen Schulleitern, deren Einsatz für die ihnen anvertrauten Kinder in blumigen Worten beschrieben wird, sollten aus Festschriften traditionsreicher Bildungshäuser gestrichen werden.
Einige von ihnen waren sadistische Schläger oder Kinderschänder, die ihre Machtposition an Schulen und Heimen ausgenutzt haben. Kollegen, betroffene Ordenshäuser, Bischöfe und nicht zuletzt die Kinder haben lange geschwiegen - aus unterschiedlichen Motiven. Die Geschundenen trauten sich nicht, mit anderen Lehrern, mit Vertretern der Kirche und nicht einmal mit ihren Eltern über ihr Leiden zu sprechen. Lange haben die Gequälten die Schuld für ihr Leiden nur bei sich gesucht. Inzwischen wissen sie, dass ihr Schicksal kein Einzelfall ist. Man muss kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass die Zahl der bekannten Übergriffe auf weit über tausend steigen wird. Was mag in den Köpfen der betroffenen Kinder vorgegangen sein? Nicht wenige von ihnen haben darum gebetet, dass sie vor ihren Peinigern geschützt werden wollen. Wie stark muss ihr Glaube sein, wenn sie nach diesen Erlebnissen der Kirche nicht für immer den Rücken kehren? Niemandem ist aber damit gedient, die Kirchen nun mit Schmutz zu bewerfen oder alle Internate schließen zu wollen. Die Taten müssen aufgearbeitet werden, mögen sie auch Jahrzehnte zurückliegen und sich die Staatsanwaltschaften dafür nicht mehr interessieren. Die Kirchen und die nichtkonfessionellen Schulträger müssen einsehen, dass durch jahrelanges Wegsehen und Vertuschen die Sache noch schlimmer geworden ist. Die meisten der Taten sind längst verjährt. In den Köpfen der Betroffenen werden sie nie ausgelöscht. Noch nach Jahrzehnten berichten sie detailgenau, wie Ordensleute Zehnjährige wegen Nichtigkeiten aus den Schulbänken gezerrt haben, auf sie eingeschlagen und -getreten haben und anschließend die Misshandelten noch an den Pranger der versammelten Schülerschar gestellt haben. Deutlich wird schon jetzt, dass immer mehr der Bischöfe, die jetzt Verantwortung tragen, mit der Praxis der Vergangenheit brechen wollen. Nichts soll länger vertuscht werden. Nicht Täter, sondern Opfer sind schützenswert. Und die Fälle werden als das benannt, was sie tatsächlich sind: Verbrechen. Und die, die sie begangen haben, sind demnach keine armen Fehlgeleiteten, sondern Verbrecher. Diese bestraft man nicht mit der Versetzung, mit der Androhung von Pensionskürzungen, sondern überlässt sie der weltlichen Justiz. Landesbischöfin Margot Käßmann hatte den Zusammenhang zwischen persönlichem Fehler und moralischer Verantwortung erkannt und Konsequenzen gezogen. Wenn das zum Maßstab wird, gibt es noch viele Rücktritte.
Quelle: Westfalen-Blatt