WAZ: Die Krise der Großen
Archivmeldung vom 04.09.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittVon Wolfgang Schäuble stammt der Hinweis, die Große Koalition sei zum Erfolg verdammt, denn wenn sie erfolglos agiere, gefährde das die Demokratie. So weit sind wir noch nicht, aber wann hat es zuletzt eine Situation gegeben, in der die Menschen so wenig wussten, woran sie mit einer Regierung waren?
Das kann letztlich auch nicht verwundern, sind doch beide Teile
der Koalition in einer tiefen Sinnkrise. Die gebrauchten Leerformeln
des Spitzenpersonals bestätigen das nur. Wenn Merkel behauptet, man
sei auf dem richtigen Weg, provoziert sie nur die Frage: Wohin? Wie
passt Rüttgers Sozial-Rhetorik, die übrigens die CDU keineswegs neu
erfindet, sondern nur auf die Kohl-Zeit zurück führt, zum liberal
geprägten Regierungsstil vor Ort?
Und wenn Beck meint, die SPD werde sich nun mal um die
Leistungsfähigen kümmern, so hat er nicht mehr getan, als sich einer
Worthülse der CDU zu bemächtigen. Welchen Folgen ein Bekenntnis zu
den Leistungsfähigen haben könnte oder müsste (Steuersenkungen?),
lässt der SPD-Vorsitzende im Nebulösen; ebenso, wie er mit den
Leistungsunfähigen wider Willen umzugehen gedenkt. Der
Politikwissenschaftler Franz Walter hat ja Recht: "Die SPD schmeckt
nicht mehr nach Kohlenstaub und Maschinenfett, sondern nach Büro,
Klassenzimmer, Klarsichtfolie." Aber was geschieht, parteipolitisch
gesehen, mit den Verlierern dieses Strukturwandels? Anders:
Langzeitarbeitslosigkeit und SPD - zwei Welten? (Das hoffen jene, die
jetzt an Rot-Rot-Grün werkeln.)
Die relative Erfolglosigkeit der Großen Koalition, die
bürokratische Mutlosigkeit ihres Agierens, das inspirationsfreie
Abarbeiten einer durch schiere Finanznot diktierten Agenda, was ist
das anderes als: Führungslosigkeit? "Leadership" bedeutet doch gerade
nicht, sich in Volks-Mentalitäten zu fügen, nur das zu tun, was eine
Mehrheit gerade zuzulassen scheint, sondern Führung heißt: einen
klaren Kurs vorgeben, couragiert umsetzen und sich für diese Linie
eine Mehrheit zu suchen.
Merkel wie Beck sind groß geworden als Machtpolitiker. Sie haben gelernt, Spitzenpositionen zu erkämpfen zu erhalten. Um mehr zu erreichen, müssten beide über sich hinauswachsen. Dass die CDU-Vorsitzende wie der SPD-Chef sich jeweils in einem strukturkonservativen Umfeld bewegen, macht die Angelegenheit nicht eben leichter. Und dennoch: Wer politische Führung übernimmt, trägt eine Verantwortung über sich und seine Partei hinaus.
Quelle: Pressemitteilung Westdeutsche Allgemeine Zeitung