Börsen-Zeitung: Experimentierfeld Geldpolitik
Archivmeldung vom 06.03.2009
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDie gute Nachricht zuerst: In den Rat der Europäischen Zentralbank (EZB) hat die Realität Einzug gehalten. Die schlechte Nachricht: Diese Realität gestaltet sich dramatischer als weithin angenommen. Die Währungshüter um Notenbankchef Jean-Claude Trichet haben zwar gestern den Schlüsselzins für die Eurozone auf den niedrigsten Stand seit Einführung der Gemeinschaftswährung vor gut zehn Jahren gekappt.
Aber weder der Leitzins von nun 1,5% noch eine von den Finanzmärkten bereits erwartete zusätzliche Zinssenkung auf 1,0% bis zum Sommer wird Wirtschaft und Preisniveau der Eurozone so bald wieder auf Kurs bringen.
Das zumindest ergibt der Inflations- und Wachstumsausblick der EZB-Experten. Offenbar rechnen diese nicht mehr damit, dass sich die Konjunktur in der Eurozone noch in diesem Jahr erholt. Auch erwartet der volkswirtschaftliche Stab der EZB, dass die Teuerungsrate sich trotz der aggressiven Zinssenkungen der vergangenen Monate um bislang 2,75 Prozentpunkte nicht erholen wird. Erholen heißt in diesem Fall, dass sie steigt und sich wieder von der deflationsnahen Null fortbewegt. Die EZB-Prognose sagt für 2010 nur eine Inflationsrate von 1,0% voraus - das ist ein deutliches Unterschreiten der Stabilitätsmarke von unter, aber nahe 2%.
Kaum einen Zweifel ließ EZB-Chef Trichet denn auch daran aufkommen, dass die Notenbank weiter die Zinsschraube lockern wird. Und wenn dieses klassische Instrument ausgereizt ist, werden auch die Europäer bei einem Nominalzins von null unkonventionelle Maßnahmen der Geldpolitik ergreifen und private Wertpapiere aufkaufen, um die sieche Wirtschaft am Leben zu erhalten.
Derzeit kann keiner genau sagen, ob die Maßnahmen - die orthodoxen sowie die bevorstehenden unorthodoxen - den Abschwung stoppen können. Zudem stellt das innovative Zeug, das die Notenbanker sich jetzt diesseits wie jenseits von Kanal und Atlantik ausdenken, das größte ökonomische Experiment seit Dekaden dar. Dass damit Risiken und Nebenwirkungen verbunden sind, von denen wir - neben den derzeit bereits diskutierten Gefahren einer verzögert einsetzenden Inflationswelle sowie Staatsbankrotten - noch gar nichts ahnen, ist offenkundig. Und dennoch: Die Situation ist derart dramatisch, dass es zum aggressiven Gegensteuern keine Alternative gibt.
Quelle: Börsen-Zeitung (von Jürgen Schaaf)