Neue Westfälische (Bielefeld): Erwünschte Ablenkung
Archivmeldung vom 12.06.2010
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 12.06.2010 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittJabulani rollt. Endlich. Er wird wüst getreten, sanft gestreichelt, beherzt geköpft, energisch gefaustet, sicher gefangen. Und hoffentlich beult er, der WM-Ball, in jedem Spiel die Tornetze. Denn wenn die Sportart Fußball genug Spektakel bietet, ist sie geeignet, die Sorgen dieser Welt für ein paar Wochen etwas kleiner wirken zu lassen.
Die meisten Menschen lassen sich gerne ablenken. Zumal die zurückliegenden Monate von miesen Nachrichten geprägt waren. Koch und Köhler fliehen aus ihren höchst verantwortungsreichen Ämtern, NRW sucht verzweifelt nach einer neuen Regierung, die Euro-Zone zeigt sich fragil wie nie, BP verölt den Golf von Mexiko. Stimmungsaufheller? Fehlanzeige! Jabulani rollt. Damit verbindet sich zumindest die Hoffnung auf einen fröhlicheren Monat. Das wäre doch schon mal etwas und könnte auch denjenigen gefallen, die das Treiben um das Hightech-Spielgerät für maßlos überbewertet halten oder den Kick an sich als langweilig empfinden. 2006, beim Sommermärchen in Deutschland, haben wir es alle erleben dürfen: Fußballerbeine setzen Massen in Bewegung, sie inspirieren das Volk. Vielleicht war es neben einem Wachstumsimpuls für die Wirtschaft von 10 Milliarden Euro (Investitionen, Ausgaben heimischer Fans und ausländischer WM-Touristen) der größte Gewinn der damaligen Gastgeber, dass der Rest der Welt sein Deutschlandbild mit Erstaunen korrigierte: Weg von stets engstirnigen Ordnungsfanatikern, hin zu bisweilen weltoffenen Gefühlsmenschen. Jabulani rollt. Und das alles ist ein Riesengeschäft. Distanzierter betrachtet: Kommerz. Die Vermarktung ohne Grenzen quält uns gelegentlich mit durchschaubaren Inszenierungen. Beispielsweise über die Eigenheiten des Runden. Er sei der schlechteste WM-Ball aller Zeiten, lästern die einen. Sie haben keine Ausrüstervereinbarung mit dem dreigestreiften Hersteller aus dem Fränkischen. Die anderen loben, weil sie vertragsgemäß nicht anders können. Für die riesige Wertschöpfungskette gibt es allerdings einen Markt. Milliarden Menschen rund um den Globus ermöglichen durch ihr WM-Interesse eine erwartete Gesamteinnahme von 2,6 Milliarden Euro. Allein für Fernsehrechte fließen dem Fußball-Weltverband FIFA 1,6 Milliarden zu. 280 Millionen Euro wird die FIFA an die 32 Teilnehmerverbände als Prämien ausschütten. Jabulani rollt. Dabei dominiert eine nie dagewesene Spannung den Blick auf das von Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Rezession und Aids geplagte WM-Ausrichterland. Kriegen sie die ersten Welttitelkämpfe auf dem schwarzen Kontinent einwandfrei organisiert über den Rasen? Der verwöhnte Rest der Welt wird seine Zweifel in den nächsten vier Wochen anhand der südafrikanischen Realität überprüfen. Für die Menschen am Kap könnte sich viel verändern. Die weltmeisterschaftsbedingten Investitionen in die Infrastruktur haben bereits zur Modernisierung des Landes beigetragen. Von unschätzbar größerem Wert wäre es, müssten die Wirtschaftsmächte ihre überhebliche Sicht auf den afrikanischen Kontinent revidieren. Jabulani rollt. Die ersten Bilder verraten, dass die Menschen da unten ausgelassen feiern. Das passt zum Ball. "Jabulani" ist Zulu und heißt auch so viel wie "feiern" oder "zelebrieren". Sie verdrängen ihre Probleme, die schlimmer sind als unsere, und taugen damit schon als Vorbilder.
Quelle: Neue Westfälische