Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zum Fußballspiel Türkei - Deutschland
Archivmeldung vom 25.06.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittKopftuchstreit, drohendes Verbot der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP, neue Kämpfe mit kurdischen Rebellen: Die Türkei müsste sich derzeit wirklich um andere Dinge sorgen als um den Ausgang des Halbfinales bei der EM 2008 gegen Deutschland.
Doch Bern 1954 lässt grüßen: Nicht nur Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan (»So wie die Türkei bei der Europameisterschaft mit farbenfroher Begeisterung aufgetreten ist, kann sie in der EU positive Effekte haben«) wünscht sich weitere Wunder in Basel und Wien. Auch seine Landsleute am Bosporus und im Land des Gegners wollen mit einem Sieg auf dem Rasen beweisen: Wir sind wer. Oder: Wir sind auch noch da. Mehr als zwei Millionen Türken leben in Deutschland; damit stellen die Türken die größte Zuwanderergruppe. Doch nicht überall hat die Integration so gut funktioniert wie in Duisburg-Marxloh, wo mit 30 der höchste Prozentsatz in der Bundesrepublik ermittelt wurde und sich kaum ein Deutscher an einer der größten Moscheen des Landes stört - im Gegenteil. Dennoch wird sicherlich zu Recht über die mangelnde Integrationswilligkeit vieler Türken diskutiert, aber »ein Einwanderungsland wider Willen sollte sich über gelegentlich widerwillige Einwanderer auch nicht wundern«, meint der renommierte Migrationsforscher Klaus J. Bade. Schon 1979 warnte der erste Bundesausländerbeauftragte Heinz Kühn seine Landsleute vor mangelnder Integrationsförderung. Die wurde erst 2005 mit dem Zuwanderungsgesetz zur staatlichen Aufgabe erklärt. Doch wie groß die Normalität mittlerweile wirklich ist, wird sich morgen Abend zeigen. Marktschreierische Quertreiber gab es bis gestern wenige. »Hürriyet« zum Beispiel schrieb am Tag vor dem Spiel: »Unsere Probleme werden uns gegen die (deutschen) Panzer nicht behindern.« Mag auch sein, dass die türkische Nationalmannschaft, wie Nobelpreisträger Orhan Pamuk behauptet, »eine Maschine zur Produktion von Nationalismus, Fremdenhass und autoritärem Denken« ist. Doch die Ansteckungsgefahr am Bazillus Chauvinismus ist bei den Beteiligten und den Fans äußerst gering. Hamit Altintop betonte, dass er Deutschland alles verdanke, Jens Lehmann unterstrich seine Affinität zur Türkei, Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble hofft, dass »nicht nur die bessere Mannschaft gewinnen möge, sondern auch die deutsch-türkische Freundschaft«. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) sprach die Hoffnung aus, dass »keiner den Versuch unternimmt, eine fröhliche Party zu stören«. Raki oder Korn, Döner oder Currywurst - egal, was nach dem Ende des Halbfinales die Sieger den Verlierern auch auf der wiedereröffneten Fanmeile in Berlin servieren: Es kann ein Fest für den Fußball werden, aber auch eines für die Integration.
Quelle: Westfalen-Blatt