Westdeutsche Zeitung: Der gezähmte Bundespräsident
Archivmeldung vom 24.12.2009
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittHorst Köhler hat uns in seiner Anfangszeit als Präsident oft verblüfft. Häufig sprach er Aktuelles und Unbequemes offen an. Damit verstieß er gegen die Tradition, dass sich ein deutsches Staatsoberhaupt - ähnlich wie die Königin von England - nicht in die Tagespolitik einmischen soll. Dafür bekam er viel Anerkennung. Doch solch direktes Stellungnehmen birgt die Gefahr, dass ein Präsident den Nimbus der Überparteilichkeit verliert. Das ist Horst Köhler offenbar bewusst.
Wie schon in den Vorjahren bleibt seine Weihnachtsansprache unverbindlich und damit ein Stück enttäuschend. Zwar thematisiert er mit dem Amoklauf von Winnenden und dem S-Bahn-Toten von München zwei unbegreifliche Taten, die Deutschland erschütterten. Zu Recht stellt er die Frage, wie so etwas geschehen konnte, und ruft zu einer Kultur der Achtsamkeit auf. Doch genügt das als Analyse? Eher nicht. Es schleicht sich das Gefühl ein, dass ein gezähmtes Staatsoberhaupt vor unbequemen Fragen zurückschreckt. Was bei den beiden wichtigen Themen Winnenden und München vor allem fehlt, ist der Versuch, schonungslos die Frage nach dem Warum zu beantworten. Das Nachdenken darüber, dass ausgrechnet junge Leute so hemmungslos töten, ist sicherlich schmerzhaft, muss aber geschehen: Welche Rolle spielt Geltungssucht? Welchen Anteil trägt die Entwurzelung, und warum kommt es überhaupt zu ihr? Warum scheinen viele Jugendliche die Realität und Computerspiele nicht mehr auseinanderhalten zu können? Solche Fragen und Antworten gnadenlos zu vertiefen, würde durchaus in eine Weihnachtsansprache passen. Wenn man es positiv ausdrücken will: Immerhin hat Horst Köhler die beiden Taten in den Mittelpunkt seiner Rede gestellt. Er war auch gut beraten, dem Bundeswehreinsatz in Afghanistan und dem bürgerlichen Engagement einen hohen Stellenwert zu geben. Wiederum enttäuschend hingegen, dass er zum drängenden Thema der wirtschaftlichen Unsicherheit, die bei vielen Menschen Zukunftsängste auslöst, so gut wie nichts sagte. Über die seit Monaten überall zu hörenden Aussagen zur Maßlosigkeit bei Finanzakteuren und die Forderung nach mehr staatlicher Aufsicht kam er nicht hinaus. Schade.
Quelle: Westdeutsche Zeitung