Westdeutsche Zeitung: Das seltsame Demokratieverständnis des SPD-Fraktionschefs
Archivmeldung vom 06.02.2007
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittBei der Abstimmung über die Gesundheitsreform ging es nicht um eine Gewissensentscheidung. Sagt SPD-Fraktionschef Peter Struck. Daher hätten sich alle SPD-Abgeordneten gefälligst der Fraktionsdisziplin zu beugen. Struck will sich nun die Neinsager in den eigenen Reihen vorknöpfen, allen voran den Gesundheitsexperten Karl Lauterbach.
Doch es sind nicht Lauterbach und Co., die der SPD
schaden, weil sie die eigene Meinung nicht an der Garderobe des
Bundestages abgeben. Es ist der Fraktionschef selbst, der seiner
Partei und dem Ansehen der Politik insgesamt einen Bärendienst
erweist.
Es stimmt ja, der Grundgesetz-Artikel 38, wonach Abgeordnete nur
ihrem Gewissen unterworfen sind, stößt im politischen Tagesgeschäft
an Grenzen. Abgeordnete sind eben nicht nur ihrem Gewissen
verpflichtet, sondern auch ihrer Partei. Für den Fraktionszwang
spricht, dass der Wähler weniger dem einzelnen Abgeordneten als
vielmehr der von ihm favorisierten Partei den Auftrag erteilt, das
von dieser versprochene Programm zu realisieren. Und dieser Wille
muss dann im Parlament umgesetzt werden.
Aber genau das hat doch Lauterbach getan. Er hat die von seiner
Partei im Wahlkampf verfolgte Bürgerversicherung konsequent weiter
vertreten, sich gegen die Verwässerung durch den
Gesundheitskompromiss gestemmt. Er hat sich schon bis zur Grenze des
Erträglichen verbogen, als er sich im Ausschuss durch einen
"Abnicker" vertreten ließ, statt auch hier noch einmal eine
letzte Schlacht zu schlagen.
Mit welchem Unfehlbarkeitsanspruch definiert da eigentlich
Fraktionschef Struck, was eine Gewissensentscheidung ist und was
nicht? Gewissen, das ist etwas sehr Individuelles. Das
Bundesverfassungsgericht hat es einmal so gesagt: Die
Gewissensentscheidung ist "jede ernstliche sittliche Entscheidung,
die der Einzelne als für sich bindend oder unbedingt verpflichtend
erfährt, so dass er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln
könnte." Man darf unterstellen, dass der Einsatz für die "richtige"
Gesundheitspolitik ein Lebensthema für Lauterbach ist und damit
durchaus in die Kategorie "Gewissensfragen" fällt.
Struck degradiert einen der wenigen Experten seiner Partei in Sachen
Gesundheit vom Abgeordneten zum Angeordneten. Damit frustriert er
nicht nur Lauterbach, sondern auch alle Bürger, die sich der Hoffnung
hingeben, sie wählten die Politiker, damit diese sich für ihre im
Wahlkampf gemachten Versprechen einsetzen.
Quelle: Pressemitteilung Westdeutsche Zeitung