Neue Westfälische, Bielefeld: Kultur des Rücktritts
Archivmeldung vom 27.02.2010
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 27.02.2010 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittEin Rücktritt ist schneller gefordert als getan. Er ist niemals freiwillig. Immer geht diesem Schritt ein Skandal, ein Versagen, eine große Aufregung, eine Niederlage voraus. Manchmal ist es auch ein persönlicher Schicksalsschlag wie im Falle von Franz Müntefering. Kurz: Die Umstände sind meist negativ.
Manch Betroffener macht sich noch im Rücktritt zusätzlich lächerlich. Wenn er sich an seinen Posten klammert und meint, ohne sein Amt gar nicht mehr leben zu können. In dieser Woche hat Margot Käßmann gezeigt, dass es auch anders geht. Mit großer Klarheit, mit Mut und Gradlinigkeit hat sie die Konsequenzen aus ihrer Alkoholfahrt und den damit verbundenen Umständen gezogen. Sie hat in diesem Alptraum damit nicht an ihrem Amt, sondern an ihrer persönlichen Linie festgehalten. Vielleicht hat sie damit in Deutschland eine Kultur der Verantwortung und des Rücktritts begründet. Sie hatte es allerdings ein bisschen leichter als andere. Die große Mehrheit der Bevölkerung und ihre eigenen Gremien wollten sie als Landesbischöfin und EKD-Ratsvorsitzende halten. Dieser Luxus ist anderen Zurücktretern nicht vergönnt. Sie werden meist getrieben, manche sogar gehetzt. Besonders bitter ist es in der Politik, wenn die eigenen Parteifreunde die Messer wetzen und zum Rücktritt drängen, weil sie selbst an die einflussreichen Positionen wollen. Ein Schritt allerdings wie der von Margot Käßmann - mit immerhin einem Stück Freiwilligkeit - ist in der Politik äußerst selten. Rudolf Seiters hat ihn 1993 als Innenminister getan. Er hat für den misslungenen Anti-Terror-Zugriff im Bahnhof von Bad Kleinen die Verantwortung übernommen, obwohl er persönlich kaum unter Druck stand. Er handelte honorig - und schöpfte daraus die Chance zu neuen Höhen. Später wurde er Vizepräsident des Deutschen Bundestages, heute ist er Präsident des Deutschen Roten Kreuzes. Wer aber in Schimpf und Schande aus dem Amt gejagt wurde, werden musste, dem ist solch eine Rückkehr verschlossen. Andere Politiker stellten sich in der persönlichen Krise zwar vor die Öffentlichkeit und übernahmen vollmundig die Verantwortung. Sie wollten diesem Bekenntnis aber keine Taten folgen lassen. Jüngstes Beispiel: Verteidigungsminister Franz-Josef Jung in der Debatte um zivile Opfer im Afghanistan-Krieg. Ein erbärmliches Schauspiel über Tage. Von dieser Art gibt es zahllose Beispiele. Keine Einsicht. Zu einer Art Rücktrittskultur gehört aber auch die Debatte um die Gründe für den Rücktritt. Wann und warum muss jemand von seinem Amt zurücktreten? Manchmal entsteht der Eindruck, dass der Betroffene aus rein politischen Gründen, nicht wegen der Schwere des Vergehens dazu gezwungen wird. Nicht jede Kleinigkeit darf gleich die Höchststrafe nach sich ziehen. Die Verhältnismäßigkeit ist ein wichtiges Kriterium. Denn es geht immer um ein persönliches Schicksal. Das ist jedoch schwer zu entscheiden. Oft entsteht in solch einer Situation ein Furor.
Quelle: Neue Westfälische