Rheinische Post: Süchtig aus Angst
Archivmeldung vom 20.04.2009
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWenn einer ängstlich, unruhig oder schlaflos ist, helfen ihm Benzodiazepine wie Valium rasch auf die Rundum-sorglos-Wolke. Diese Tranquilizer machen die Krämpfe der Seele vergessen, doch den Konsumenten schnell abhängig; der Entzug kann eine mehrjährige Hölle sein.
Deshalb werden diese verschreibungspflichtigen Betäubungsmittel im Giftschrank jeder Apotheke aufbewahrt. Doch in geringerer Dosierung werden sie, wie Hamburger Suchtforscher ungläubig errechnet haben, flächendeckend unbeanstandet bewilligt, oft über Monate, ohne Aufklärung und als unauffälliges Privatrezept. Leidet etwa ein ganzes Volk unter Epilepsie, der Ausnahme für lebenslange Verordnung? Mancher Arzt greift leicht zum Psychorezeptblock, weil seine Patienten betteln. Weil er kaum Zeit oder Kompetenz hat, ihre Qualen zu ergründen. Weil uns Psychotherapeuten fehlen. Und weil Angst beinahe kollektiv umgeht. Sagt die massenhafte Abhängigkeit von Benzodiazepinen nicht viel über den Zustand einer Gesellschaft? Schlaflosigkeit ist offenbar chronisch im Land der Denker und Grübler. Wir brauchen ein strengeres Register, wer was wie oft verschreibt. Zugleich brauchen wir mehr Professionalität im Kampf gegen die Krankheit Angst.
Quelle: Rheinische Post