Börsen-Zeitung: Eine Frage der Perspektive, Kommentar zur Allianz
Archivmeldung vom 09.06.2017
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Freigeschaltet durch André OttSind 1,5 Mrd. Euro viel Geld? Das kommt auf die Perspektive an. Der Betrag ist gigantisch, wenn er als Kontostand imaginiert wird. Die Zahl schrumpft aber fast bis zur Bedeutungslosigkeit, sobald sie als Preisschild am M&A-Markt auftaucht. Denn dort werden ganz andere Summen aufgerufen in Zeiten der Notenbank-Geldschwemme. Wie ist es also einzuordnen, wenn die Allianz prüft, mehr als 1,5 Mrd. Euro in die Komplettübernahme ihres Kreditversicherers Euler Hermes zu stecken? Bei der Antwort auf diese Frage ist ebenfalls die Perspektive entscheidend. Eine Übernahme wäre gut und schlecht zugleich. Und das Verwirrende ist auch in diesem Fall: Beide Sichtweisen sind berechtigt.
Gut ist das Herauskaufen des Streubesitzes, weil es sich zum aktuellen Euler-Hermes-Kursniveau lohnt. Denn wer sich mit gespitztem Griffel hinsetzt, der kann beispielsweise ausrechnen, dass das eingesetzte Überschusskapital das Ergebnis pro Allianz-Aktie im laufenden Jahr um 1,4 Prozent erhöht. In der Zukunft ist sogar mehr drin. Denn die Integration in die Allianz-Organisation würde jede Menge Kosten senken, und dies nicht nur wegen des Verzichts auf das Listing. Es fällt schließlich auf, dass die Kostenquote von Euler Hermes seit dem Jahr 2012 kontinuierlich gestiegen ist. Dies ist revisionsbedürftig. Zugleich ist die Eigenkapitalrendite in diesem Zeitraum um satte 2,4 Prozentpunkte gesunken. Zwar hält der Vorstand mit Stellenabbau dagegen. Aber die Allianz könnte weitere Effizienzen heben, wenn sie den vollen Durchgriff bei Euler Hermes hätte.
Wechselt man jedoch die Brille des Zahlenschiebers mit der Brille des Strategen, fällt das Urteil über die Einkaufstour ganz anders aus. Denn die Münchner gewinnen keinen Wettbewerbsvorteil mit der Komplettübernahme. Euler Hermes ist mit weitem Abstand Marktführer, dementsprechend sind die Wachstumsaussichten beschränkt. Schon heute können die Pariser die Allianz-Organisation für ihren weltweiten Auftritt nutzen, so dass im Vertrieb kein Durchbruch zu erwarten wäre. Kurz: Die strategische Position der Allianz verbessert sich nicht.
Insofern kann eine Euler-Hermes-Komplettübernahme als exemplarisch gelten für die Lage der Versicherungsindustrie: Weil keine strategischen Assets zu akzeptablen Preisen auf den Markt kommen, geht es aktuell nur um Optimierungen. Das tut jenen Vorständen weh, die den Willen zur Gestaltung mitbringen. Dieser Schmerz ist aber aus Perspektive der Aktionäre leichter zu ertragen als ihr eigenes Leid, wenn überteuerte Gesellschaften erworben werden.
Quelle: Börsen-Zeitung (ots) von Michael Flämig