WAZ: Zum Parteitag der SPD: Ein Fehler zur rechten Zeit
Archivmeldung vom 26.10.2007
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 26.10.2007 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittUm die Zerrissenheit der SPD zu sehen, genügt ein Blick ins Gesicht von Peer Steinbrück. Als Finanzminister ist er gegen Becks Abkehr vom Reformkurs. Doch als Parteivize ist er gewillt, der Basis Tribut zu zollen.
Also zeigt er Verständnis dafür,
dass Beck die SPD aus dem Umfragetief holen will. Übersetzt heißt
das: Die SPD macht einen Fehler. Aber es ist richtig, diesen Fehler
zu machen, wenn das Volk es ihr dankt.
Becks Kurswechsel kann man geißeln, verstehen auch. Nur sollte
man dem SPD-Chef in seinem Annäherungsversuch ans Volk nicht
leichtfertig bescheinigen, dass er wirklich die Sorgen der Menschen
aufgreift. Älteren länger Arbeitslosengeld I zu zahlen, ist populär
und bezahlbar. Eine Milliarde tut Steinbrück nicht weh. Für die
Betroffenen aber ist es nur eine Art Gnadenfrist, der das eigentliche
Problem innewohnt: Die Angst vor dem Absturz in Hartz IV. Das ist es,
was unsere Gesellschaft so aufwühlt.
Sieben Millionen Menschen in Deutschland leben von der
Grundsicherung, und die restlichen 70 Millionen sehen jeden Tag, was
das bedeutet. Ihre Kinder sitzen in der Schule neben Kindern, die
kein Kakaogeld haben, und beim Bäcker hören sie alte Menschen nach
Gutem von gestern fragen. Wollte die SPD sich wirklich der Sorgen der
Leute annehmen, müsste sie in Hamburg drei Tage lang über Hartz IV
reden, über das Arbeitslosengeld II, über Kleidergeld und
Schulbeihilfen für Hartz-Kinder. Doch sie redet über das
Arbeitslosengeld I, also über ein paar Monate Aufschub. Damit führt
sie wie die Union eine Scheindebatte.
Das hat seinen Grund: Mit Hartz IV haben beide Volksparteien
einen Systemwechsel vollzogen, den das Volk bis heute nicht verdaut
hat. Die alte Arbeitslosenhilfe sollte den Lebensstandard, Hartz IV
nur noch die Existenz sichern. Es behandelt deshalb alle gleich. Wenn
Rüttgers und Beck es unfair finden, Ältere zu behandeln wie
Schulabgänger, müssten sie mehr Arbeitslosengeld II für Ältere
fordern. Das tun sie aber nicht, weil sie den Systemwechsel für
richtig halten. Ein unpopulärer Standpunkt, von dem eine Debatte über
das Alg I prima ablenkt.
Merkel muss Beck nicht fürchten. Denn die Rolle des Volksverstehers hat sie bereits besetzt: Als "Mrs. Feelgood", wie das US-Magazin "Newsweek" sie nennt. Dass sie als vermisste Regierungschefin ("Lost Leader") verspottet wird, die im Ausland glänzt und daheim nach Umfragen regiert, wird sie verschmerzen. Denn als Mrs. Feelgood lebt es sich besser denn als Leipziger Liberale.
Quelle: Pressemitteilung Westdeutsche Allgemeine Zeitung