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Neue Westfälische: Die Kanzler-Präsidentin

Archivmeldung vom 19.10.2009

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 19.10.2009 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Die neue Regierungskoalition aus CDU, CSU und FDP steht. Sie ist derzeit ohne relevante Alternative. Insofern ist der Streit, den CDU-Vize Christian Wulff am Wochenende mit dem FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle über die finanziellen Möglichkeiten der neuen Regierung angezettelt hat, nur Spiegelfechterei.

Grundsätzlichen Einfluss auf die Entscheidungen für das neue Regierungsbündnis hat der Streit nicht. Im Gegenteil: Selten zuvor hat sich eine Wählerschaft so sehr in die Hand einer Regierungschefin gegeben wie bei der Bundestagswahl am 27. September. Selten zuvor auch war eine Regierungschefin so stark wie Angela Merkel, und das, obwohl sie ihrer Partei weniger Stimmen brachte als je ein Parteichef vor ihr. Woran liegt das? Merkel hat das politische Zentrum der Republik verschoben. Und zwar - zur Überraschung der alten Männer der SPD, die mit den Auswirkungen überfordert sind - nach links. Sie hat zugleich - ungeachtet des Unwohlseins der alten Männer der Union - mit alten konservativen Werten der Union aufgeräumt: Die Rolle der Frau? Alles ist möglich, seit Ursula von der Leyen Erziehungs-, Familien- und Karrierewerte der Unionspolitik sozial und demokratisch definiert. Die Ausländer-Integration? Nie war die Union weiter vom konservativen Wertegerüst einer deutschen Leitkultur entfernt. Die Umweltpolitik? Die Kanzlerin reist nicht nur zu Eisbären. Sie domestiziert gerade auch den Atom-Konflikt, indem sie längere Laufzeiten mit der früheren Schließung von Atomkraftwerken konsensfähig macht. Merkel präsentiert sich so pragmatisch-politisch als Stimme der deutschen Mitte, dass wenig Platz für Andere und für Streit bleibt: Die SPD sucht nach den Ursachen ihrer Wahlniederlage, ohne den komplexen Angriff der Merkel-Union auf das politische System verstanden zu haben. Vor der Linkspartei muss dem Beobachter schaudern, wenn man bedenkt, dass ausgerechnet der linke Weltenveränderer Oskar Lafontaine mit der Spaltung des sozialdemokratischen Lagers zum ersten Mal seit 15 Jahren wieder für eine Stimmen-Mehrheit von Union und FDP gesorgt hat. Die Grünen taumeln zwischen Jamaica- und Ampel-Option, ohne die Bündnisfrage inhaltlich beantworten zu können. Wenn nun also Christian Wulff auf die politische Bühne der Koalitionsverhandlungen tritt und einen Streit um die Steuersenkungspläne der FDP anzettelt, dann mag das der Versuch eines veritablen CDU-Vize, dem viele auch das Amt der Parteichefs zutrauen, sein, gegen den hegemonialen Anspruch der Kanzlerin aufzumucken. Tatsächlich aber verleiht Wulff Merkel nur einen der für ihre Macht so wichtigen Flügel: Von den Konflikten zwischen einer wertkonservativen Wirtschaftsflanke der Union und einem unerfahrenen Steuersenker und FDP-Chef wird die Kanzlerin immer weiter nach oben getragen. Sie ist heute die Mitte. Keine Spur mehr derzeit von der in Rot, Rot, Grün gespaltenen politischen Gegnerschaft. Merkel macht sich auch das bisschen Opposition noch selbst. Das hat zuletzt in dieser Stärke nur Franz-Josef Strauß mit der CSU in Bayern vermocht. Gut möglich, dass wir gerade einen Systemwechsel in der bundesdeutschen Verfassungsgeschichte erleben: Die Richtlinien der Politik bestimmt dann künftig die Kanzler-Präsidentin.

Quelle: Neue Westfälische

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