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Gewinnkonsens auf der Kippe, Marktkommentar von Christopher Kalbhenn

Archivmeldung vom 19.03.2022

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 19.03.2022 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Die furchtbaren Nachrichten über das menschliche Leid und die Zerstörungen, die der Angriff Russlands in der Ukraine anrichtet, entsetzen die Welt. Ungefähr drei Wochen nach dem Beginn des Krieges beginnt noch etwas anderes deutlich zu werden. Die ökonomischen Folgen des Krieges und der Sanktionen gegen den Aggressor Russland - darunter sehr stark steigende Energiepreise, eine Verschärfung der Lieferkettenprobleme und der Ausfall des russischen Marktes für viele Unternehmen - machen sich in der gesamten Weltwirtschaft und insbesondere in Europa zunehmend stärker bemerkbar. Durch den Krieg, so die OECD, wird das globale Wachstum in diesem Jahr um mehr als einen Prozentpunkt niedriger ausfallen und die Inflation sich um mindestens zwei zusätzliche Prozentpunkte erhöhen. Die steigenden Preise für Metalle könnten laut der OECD in vielen Wirtschaftszweigen für Probleme sorgen, so im Flugzeug- und Fahrzeugbau sowie in der Halbleiterproduktion. Die durch den Krieg ausgelöste Angebotsverknappung bei Rohstoffen verschärfe die Lieferstörungen.

Insbesondere Europa und nicht zuletzt Deutschland mit seiner engen wirtschaftlichen Verzahnung mit Osteuropa bekommen die Auswirkungen immer stärker zu spüren, wie die Nachrichten der zurückliegenden Tage deutlich zeigen. So hat etwa das Institut für Weltwirtschaft seine Prognose für das deutsche Wachstum in diesem Jahr von 4 % auf 2,1 % gesenkt: "Der Krieg in der Ukraine führt zu hohen Rohstoffpreisen, neuen Lieferengpässen und schwindenden Absatzmöglichkeiten." 60 % der Unternehmen, so der Deutsche Industrie- und Handelskammertag, melden zu­sätzliche Lieferkettenstörungen durch den Krieg.

Ähnlich die Nachrichten aus wichtigen Branchen. So hat der Verband der Chemischen Industrie seine Prognosen über Umsatz- und Produktionsanstiege von 5 % bzw. 2 % kassiert. Mehr als die Hälfte der Mitgliedsunternehmen erwartet nun einen Umsatz- und Produktionsrückgang. Der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau hat seine Produktionswachstumsprognose für dieses Jahr von 7 % auf 4 % gekappt.

All dies kann nicht ohne Folgen für die Aktienmärkte bleiben. Die Marktteilnehmer müssen sich wohl von der Vorstellung verabschieden, dass die Gewinne der börsennotierten deutschen Unternehmen nach dem Sprung des Vorjahres 2022 moderat, d. h. im hohen einstelligen Prozentbereich weiter wachsen werden. Derzeit scheint der Dax nach dem von dem Krieg ausgelösten Kurseinbruch mit einem Kurs-Gewinn-Verhältnis (KGV) von 12,9 auf Basis der Konsensgewinnschätzungen für das laufende Jahr relativ günstig bewertet zu sein. Allerdings beruht das KGV auf einer Konsensschätzung für den aggregierten Dax-Gewinn je Aktie, der nach wie vor bei etwas mehr als 1 100 Punkten liegt und sich damit im Vergleich zum Jahresbeginn praktisch nicht verändert hat. Damit ist absehbar, dass die Kriegsfolgen erst noch eingearbeitet werden müssen und die Konsensschätzung sinken wird.

Nun ist der Indexkonsens ein träger Indikator. Die vielen Einzelaktienanalysten, die ihn speisen, passen ihre Gewinnprognosen nicht auf einen Schlag per Knopfdruck an, sondern müssen zunächst neu rechnen. Erschwerend kommt hinzu, dass sie noch gar nicht richtig abschätzen können, wie groß der Anpassungsbedarf nach unten sein wird. Niemand weiß, wie lange der Konflikt anhalten und wie groß der ökonomische Schaden letztlich ausfallen wird. Die Commerzbank hat immerhin eine Top-down-Schätzung vorgenommen und geht nun davon aus, dass die Gewinne der Dax-Unternehmen in diesem Jahr nicht wie vom Konsens unterstellt um nahezu 7 % zulegen, sondern um 5 % sinken werden. Die Berichtssaison zum ersten Quartal, die in ein paar Wochen beginnt, wird sehr spannend sein. Wahrscheinlich wird der Gewinnkonsens merklich sinken, wenn die Zahlenwerke die ersten Spuren der Kriegsfolgen offenlegen und die Unternehmen sich in ihren Ausblicken an die neue Realität anpassen.

Entscheidend für das Ausmaß der Prognosereduzierungen wird allerdings die weitere Entwicklung des Krieges sein. In den Wochen bis zum Beginn der Berichtssaison kann viel passieren. Insofern werden auch die Unternehmensberichte und die sinkenden Analystenschätzungen den Aktienmarkt nicht zwangsläufig stark unter Druck setzen. Würde sich ein Kompromiss zwischen der Ukraine und Russland bzw. ein Waffenstillstand konkreter abzeichnen, würde der Dax auch bei sinkenden Gewinnprognosen durch die Decke gehen. Sicher ist nur, dass der Aktienmarkt auch in den nächsten Wochen starke Kursschwankungen zeigen wird.

Quelle: Börsen-Zeitung (ots)

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