WAZ: Kinderschwund in Deutschland: Der ängstliche Mann
Archivmeldung vom 03.11.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittChristian ist Papa geworden, und wir treffen ihn beim Babyschwimmen. Sozusagen in seinem natürlichen Element: mit Jonas Hosenscheißer. Wie souverän Christian mit diesem fremden kleinen Wesen herumfuhrwerkt - Babyschale schwuppdiwupp, Schwimmwindeln an und ab ins Becken - wie er schamlos Robbenlaute imitiert, das ist beeindruckend selbstzentriert. Christian hat sich verändert.
Veränderung ist etwas, vor dem viele Männer offenbar Angst haben
- besonders Männer, glaubt man einer repräsentativen Umfrage des BAT
Freizeitforschungsinstituts. Fast die Hälfte einer Generation (43
Prozent der 18- bis 39-Jährigen) hat Angst davor, Verantwortung zu
übernehmen und stellt zugleich den Wert Freizeit über den Wert
Familie. Nur jede vierte Frau teilt diese Haltung. Sind Männer also
die eigentlichen Nachwuchsmuffel, Demografie-Killer,
Rentensystem-Unterwanderer? Ewige Trendsportler, Junggebliebene,
Partykönige, unfähig zur Bindung?
Es gibt wie immer viele Gründe, halb wird er gezogen, halb wird
Mann geschoben: der schreckliche Arbeitsmarkt, das Hingehaltenwerden
in Praktika und befristeten Stellen. Die organisatorischen
Schwierigkeiten, die ein Kind mit sich bringt. Der Einkommensverlust.
Und ja, auch dass man Freunde nicht mehr so oft sieht. Die
Arbeitenden und der Vater in Elternzeit - Christian hat nun einen
anderen Rhythmus.
Aber alle diese Gründe haben natürlich nur die Bedeutung, die
ihnen zugemessen wird. Und hier legen Akademiker offenbar strengere
Maßstäbe an. Über die Hälfte lehnt die Gründung einer eigenen Familie
ab. Natürlich studiert man heute länger, verdient erst später Geld.
Aber auch die Relativierung spielt eine große Rolle: der permanente
Vergleich. Deutschland oder Spanien? Britta oder Petra? Wer ist die
einzig wahre Super-Mutti? Wir sind keine Spaßgesellschaft, sondern
eine Suchergesellschaft.
Und wonach suchen wir? Nach Glück, wie auch immer man es
definiert. Aber viele trauen sich wohl nicht, es langfristig zu
denken. Und wenn ich mich in fünf Jahren scheiden lasse? Dann wird
das Kind zum Kostenfaktor. Gerade Männer denken so. Und sich alle
Möglichkeiten offen zu halten, bedeutet den meisten ihre Freiheit.
Christian ist die Ausnahme im Schwimmbad, der einzige Vater. Der Exot bekommt neugierige Blicke. Sicher braucht es Kraft und Mut zur Veränderung, aber es scheint, als hätte er da eine Quelle der Zuversicht in seinem Arm.
Quelle: Pressemitteilung Westdeutsche Allgemeine Zeitung