Berliner Morgenpost: Die Kanzlerin muss aus der Deckung und führen
Archivmeldung vom 09.01.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWie stolz waren sie auf ihren Rekord. In nur drei Wochen hatten CDU, CSU und FDP den gemeinsamen Koalitionsvertrag ausgehandelt. Dass Schnelligkeit nicht immer zum Erfolg führt, hat die schwarz-gelbe Koalition bestätigt. Selten ist der Start einer Koalition so vermurkst worden wie jetzt von Angela Merkel, Horst Seehofer und Guido Westerwelle.
Und Besserung ist nach den Selbstfindungstreffen der Liberalen in Stuttgart und der Christsozialen in Kreuth nicht in Sicht. Auch deshalb wollen sich am übernächsten Sonntag die Duzfreunde Horst und Guido zum gemeinsamen Krisen-Abendessen bei ihrer Duzfreundin Angela im Kanzleramt treffen. Jetzt rächt sich, dass die Koalitionsverhandlungen einem Schweinsgalopp glichen. Statt vorab auf Gründlichkeit, damit auf ein festes Fundament bis 2013 zu setzen, wurden alle wesentlichen strittigen Punkte - von der Gesundheits- über die Steuerreform bis zum jetzt auch offenkundigen Disput über den EU-Beitritt der Türkei - im Vagen gehalten und damit je nach Interessenlage interpretierbar. Die Politikfelder wurden punktuell abgehakt, ohne sie zu einem Ganzen, zu einer Zielmarke, zu einem gemeinsamen Projekt für die erste bürgerliche Koalition nach elf Jahren zusammenzufügen. Wofür steht diese Koalition eigentlich? Beim Stuttgarter Dreikönigstreffen hat zumindest Westerwelle für die Liberalen eine Antwort gegeben. Die FDP strebt eine "geistig-politische Wende" an. Soll heißen: mehr bürgerliche Entscheidungsfreiheit, aber auch mehr Selbstverantwortung; weniger Staatsbevormundung und damit weniger staatliche Rundumversorgung. Eine Antwort, die die sich noch als Volkspartei fühlende CDU und in Bayern die CSU schwerlich mittragen wollen. Beide müssen, anders als die Liberalen, die unverändert vor allem die "Besserverdiener" im Auge haben, auf Gesamtvolkes Stimme hören. Die ist nach neuen Umfragen mehrheitlich sogar eindeutig gegen Steuersenkungen. Kein anderes Ergebnis ist zu erwarten, wenn demnächst bei der Gesundheitsreform die FDP auf eine größere Selbstbeteiligung der Patienten pochen wird. Wo so viel weniger zusammenpasst als vorab vollmundig versprochen, ist starke Führung gefragt. Die lässt Angela Merkel als Chefin des Dreierbündnisses vermissen. Sie muss endlich intern wie nach außen klarmachen, was sie will, wofür sie steht. Ihr Politikansatz der kleinen Schritte lässt keine klare Richtung erkennen. Zunehmend ratlos sind deshalb eigene Parteimitglieder wie Wähler. Dieses Führungsvakuum machen sich andere nutzbar - von Westerwelle über Seehofer bis zu den CDU-Landesfürsten. Die Bundeskanzlerin muss aus der Deckung. Sie muss den Konflikt riskieren. Sie muss dieser Koalition endlich Richtung und Ziel weisen. Anderenfalls hat die Regierung die Unterstützung der Deutschen wieder verloren und damit schneller als gedacht die Macht schon wieder verspielt. Darüber sollten allerdings auch Westerwelle und Seehofer vor dem gemeinsamen Krisenmahl mit der Kanzlerin noch einmal gründlich nachdenken.
Quelle: Berliner Morgenpost