Die Hydra des Kapitalismus
Archivmeldung vom 16.12.2019
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Freigeschaltet durch André OttTragödien wie Heiner Müllers Theaterstück „Die Hydra“ oder unlängst der Spielfilm „Joker“ stellen soziale Desintegration als Fiktion dar. Längst sind solche Vorstellungen ökonomische und gesellschaftliche Realität geworden, während der „freie Kapitalismus“ selbst zur Fiktion verkommt. Anhand künstlerischer, journalistischer und sozialwissenschaftlicher Beispiele wirft der Autor Licht auf die gegenwärtigen kapitalistischen Produktionsverhältnisse. Derart ausgeleuchtet, taucht eine Praxis auf, die sich drastisch von dem unterscheidet, was uns täglich versprochen wird.
„Sollte es eine griechische Erzählung darstellen?“, dachte ich mir, als
ich neulich das Theaterstück Die Hydra (1) in den Kammerspielen (Bochum)
sah. Wenn der Text des Dramatikers Heiner Müller einen Prozess
erörtert, indem die Herakles‘ Suche nach dem Monster Hydra tatsächlich
einen Weg zu sich selbst — nämlich zu seinem Verhältnis zur Welt
darstellt — ist das Prosastück in seiner modernen Inszenierung durchaus
treu der griechischen Auffassung geblieben. Dennoch ging sie weit über
das klassische Verständnis hinaus, weil der Weg zu sich selbst
beziehungsweise das Verhältnis zur Welt in der Gegenwart ein
eigentümliches Verhältnis ist.
Dies ist keine idealistische, subjektive,
ahistorische, kontextlose Erkenntnis der Welt, sondern die konkrete
Gegebenheit der immanenten, faktischen Objektivität.
György Lukács beschreibt die ontologische Priorität des Seins über das
Bewusstsein wie folgt:
„Die Autos auf der Straße können erkenntnistheoretisch sehr leicht als
bloße Sinneseindrücke, Vorstellungen et cetera erklärt werden. Trotzdem:
Wenn ich von einem Auto überfahren werde, so entsteht doch nicht ein
Zusammenstoß zwischen meiner Vorstellung über das Auto und meiner
Vorstellung über mich selbst, sondern mein Sein als lebender Mensch wird
von einem seienden Auto seinsmäßig gefährdet“ (2).
Das Theaterstück verweist einerseits auf das Anhäufen der Sachen, der
Waren, des Besitztums. Andererseits entsteht eine soziale Disruption
durch die Entgesellschaftung, die Atomisierung und das Verfallen in der
Nichtigkeit des Einzelnen — aber keineswegs des Individuums, das nur
durch die und innerhalb der Gesellschaft existieren kann — und
Stummheit. Das Gespräch wird zum Monolog. Die Gemeinde erscheint als die
Summe vereinsamter Wesen, ein Purgatorium — ein Fegefeuer — seelenloser
Seelen.
Joker, der Anarcho-Clown
Dann fiel es mir ein: Fünf Tage zuvor hatte ich den Film Joker (3)
gesehen. Das, was wahrscheinlich viele Zuschauer als eine Art Fiktion
betrachten, ist stattdessen unter den aktuellen gesellschaftlichen
Bedingungen fast eine Dokumentation der gegenwärtig bürgerlichen
Gesellschaft: Die vollkommene Negation der Politik durch die vollendende
Gestalt des Kapitalismus als ein Ungeheuer, einem Krebsgeschwür gleich,
dessen einzige Moral es ist, an sich und in sich unaufhörlich,
hemmungslos zur Unendlichkeit zu wachsen, aber nicht für sich — es hat
keinen Willen, bewegt sich wie ein Automat.
Kapitalistische Anarchie der Linken und der Rechten
Der klassisch politische Links-Rechts-Unterschied existiert nicht mehr, sondern bloß ein Anarcho-Medaillon:...weiterlesen hier: https://kenfm.de/tagesdosis-16-12-201...
Quelle: KenFM von João Romeiro Hermeto