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WAZ: Freiheit mit Fragezeichen

Archivmeldung vom 29.10.2011

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 29.10.2011 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Seit 125 Jahren hält sie den Einwanderern dieser Welt vor den Toren New Yorks ihre imposante Fackel entgegen. Aber nie war das Leuchtzeichen der Hoffnung von "Miss Liberty" so heruntergedimmt wie heute. Der amerikanische Traum, der auf persönlicher Autonomie, politischer Freiheit und der verbrieften Chance zu Aufstieg und Glück für jeden gründet, hat sich für viele Amerikaner als Fiktion aus einem schlechten Hochglanz-Prospekt erwiesen.

Während die oberen Zehntausend obszöne Reichtümer aufhäufen, sind im Kellergeschoss der Gesellschaft Millionen auf Essensmarken, Suppenküchen und ärztliche Minimalversorgung für lau angewiesen. Wall Street und Main Street, die teilweise staatszersetzend vor sich hin zockende Finanzwelt und der nach Luft schnappende Durchschnitts-Amerikaner begegnen sich zusehends feindseliger. Ob der soziale Sprengstoff, der politischen wie religiösen Fundamentalisten in die Hände spielt und die Verachtung des Staates und seiner Institutionen voranschreiten lässt, dauerhaft entschärft werden kann, ist noch die Frage. Der Tellerwäscher rückt dem Millionär - siehe Protestbewegung - immer näher auf die Pelle. Zumal der Niedergang der nach den Kriegen im Irak und in Afghanistan ausgelaugten Supermacht immer drastischer zutage tritt. Straßen, Brücken, Bahnschienen verfallen. Manche Bundesstaaten und Städte sind zahlungsunfähiger als Griechenland. Das unterfinanzierte Bildungssystem, das in der privatisierten Spitze Top-Begabungen ermöglicht, produziert in der Breite Globalisierungsverlierer. Die Arbeitslosigkeit nistet sich auf Rekordhöhe ein. Staatlich unterstützte Energiesparmaßnahmen, die der Erderwärmung Einhalt gebieten und Ressourcen schonen, gelten als Teufelszeug. Im Gegenzug liegt das öffentliche Leben schnell brach, wenn Mutter Natur einmal allzu launisch wird. Trotzdem beschwören Politiker aller Lager bei jeder Gelegenheit noch immer pathetisch die Größe Amerikas herauf. Ein Selbstbetrug, der lange funktioniert hat, weil für Pessimismus in einer per Gründungsakte optimistischen Nation kein Platz sein durfte. Das Modell funktioniert nicht mehr.

Fazit: Die Freiheitsstatue wird 125 Jahre alt. Die Mehrheit der Amerikaner glaubt heute aber nicht mehr daran, dass es die nächste Generation einmal besser haben wird, wenn sie nur strebsam und mutig nach ihrem Glück sucht. Die Erosion dieses Traums ist ein Verlust an Freiheit, der Amerika in seinem Innersten bedroht.

Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (ots)

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