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WAZ: Politik in Ostdeutschland

Archivmeldung vom 29.05.2008

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 29.05.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

In den frühen 90er-Jahren, die Wiedervereinigung Deutschlands war soeben vollbracht, hatten die politischen Beobachter alle Mühe, den Überblick über die Skandale und Wirrungen in den fünf neuen Ländern zu behalten. Gomolka, Gies, Duchac, Münch, Bergner: Die Ministerpräsidenten kamen und gingen, mal wegen politischer Erfolglosigkeit, mal wegen parteiinterner Querelen, mal wegen handfester Stasi-Vorwürfe.

Es folgte die Periode der West-Importe, die mit der gestrigen Wahl Stanislaw Tillichs zum sächsischen Regierungschef beendet ist: Erstmals seit 1990 stehen in allen neuen Ländern ehemalige DDR-Bürger an der Spitze. Der Osten regiert sich selbst.

Ein normaler Vorgang? Sicherlich. Wir sind schließlich im 19. Jahr der Einheit. Dennoch: Der Osten ist anders. Immer noch und aus guten Gründen. Die meisten Ostdeutschen werden es vermutlich schnell wieder vergessen, dass sie jetzt einzig und allein von Ossis regiert werden. Die Ostdeutschen halten weniger Ausschau nach Führungsfiguren aus den "eigenen Reihen". Sie interessieren sich auch weniger für Wahlprogramme und Visionen. Fast 60 Jahre Diktatur haben tiefe Furchen hinterlassen: Die Skepsis gegenüber den Parteien ist ebenso ungebrochen wie die Neigung, sich Autoritäten anzuvertrauen. Sie sehnen sich nach Führungspersönlichkeiten, nach charismatischen, gerne auch übermächtigen Landesvätern. Nach Typen wie Kurt Biedenkopf, Manfred Stolpe oder Bernhard Vogel, die Zielstrebigkeit und Durchsetzungsfähigkeit ausstrahlen. Daran mangelte es auch Tillichs Vorgänger Milbradt - nicht zuletzt daran ist er gescheitert.

Es ist eine der wichtigsten Aufgaben aller ostdeutschen Politiker, das Vertrauen der Sachsen, der Thüringer oder der Brandenburger in die Demokratie zu bestärken. Die Zufriedenheit mit der Demokratie ist im Osten seit 1990 erheblich gesunken, die Kluft zwischen West- und Ostdeutschland ist in dieser Frage größer geworden. Die Gründe liegen auf der Hand: Der versprochene Aufschwung lässt auf sich warten, viele Ostdeutsche fühlen sich noch immer wie zweitklassig behandelt, was sie drittens an der Gerechtigkeit des Systems zweifeln lässt. Das bietet Spielraum für Populisten.

Es ist wenig hilfreich, dass sich viele Westdeutsche bei der Ursachenforschung für das zum Teil schwierige Miteinander damit begnügen, den Landsleuten im Osten fehlende Dankbarkeit oder DDR-Nostalgie vorzuwerfen. Der Systemwechsel, die Geschwindigkeit der Veränderungen sind enorme Stressfaktoren, die viele Menschen fordern und überfordern - bis heute.

Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (von Norbert Robers)

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