junge Welt: Diktatur auf Raten. Kommentar zur Militärintervention in Rio de Janeiro
Archivmeldung vom 21.02.2018
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Freigeschaltet durch André OttFortführung der Politik mit anderen Mitteln: Im krisengeschüttelten brasilianischen Bundesstaat Rio de Janeiro hat nun ein General des Heeres das Sagen. Per Dekret aus dem Palácio do Planalto wurde am vergangenen Freitag die öffentliche Sicherheit in die starken Hände des Militärs gelegt. Denn dort geht es kriminell zu - und der »neoliberale Vampir« zeigt nun die Zähne.
Als solcher wurde Brasiliens Staatschef Michel Temer zuvor während des berühmten Karnevals in der wunderbaren Stadt am Zuckerhut von der Sambaschule Paraíso de Tuiuti der Weltöffentlichkeit vorgeführt. Dem Herren, dessen illegitime Regierung die Arbeiterrechte schleifen lässt und den Multis die Schätze des Landes auf dem Silbertablett überreicht, müssen die sonst recht starren Gesichtszüge - eine gewisse Ähnlichkeit mit einer berühmten Filmfigur ist tatsächlich nicht zu verkennen - entgleist sein. Die Zensur schaltete sich ein: Beim Umzug der Sieger am Sonnabend durfte der Temer-Imitator nicht noch einmal mit Präsidentenschärpe auftreten. Eine zivile und erfreuliche Maßnahme: Offenkundig traut man den telenovelasüchtigen Globo-Konsumenten doch mehr zu als dem Sender selbst, der zunächst eher einen bunten Historienaufzug als eine Anklage gegen die Blutsauger und Sklaventreiber von heute gesehen hatte.
Doch nach dem Karneval ist Schluss mit lustig. Im Parlament in Brasília steckt die Rentenkürzungsreform fest, für Montag hatten die Gewerkschaften zu landesweiten Streiks und Demonstrationen aufgerufen. Schon wieder unerwünschte Bilder. Doch Knarren, Panzer und Soldaten sind auch recht telegen. Und tatsächlich ist die Sicherheitslage in Rio katastrophal, fast so schlimm wie in Sergipe, Alagoas oder Espírito Santo etc. pp. Doch die mediale Inszenierung gefällt jenen schlichten Gemütern, die nach einem starken Mann rufen, der schnelle Lösungen für alle Probleme verspricht, den Saustall ausmistet und die Banditen niedermähen lässt. Dafür steht vor allem der Abgeordnete Jair Bolsonaro, der schlechte alte Zeiten als Modell für die Zukunft preist. Mit einer Bevollmächtigung des Militärs, wie es sie seit der Verfassung 1988 am Ausgang der Diktatur nicht mehr gegeben hat, erweist Temer der extremen Rechten und ihrem aussichtsreichsten Kandidaten im Wahljahr seine Referenz. Senator Humberto Costa von der Arbeiterpartei PT spricht von einer »Bolsonarisierung dieser Regierung«.
Für die Menschen in Rios Favelas sind Soldaten auf ihren Straßen nichts Neues. Etliche Male rückten die in solche Viertel bereits mit ein. Die zahlungskräftigen Kokser finden sie hier nicht, und der Drogenkrieg eskaliert dadurch erst recht. Vor allem schwarze junge Männer werden exekutiert, verirrte Kugeln treffen immer wieder Unbeteiligte. Hinter dem Geschäft mit Waffen und Drogen stecken hohe Kreise aus Politik, Polizei und Militär. Temers Show stört die nicht. Die sozialen Probleme, aus denen sich die Gewalt speist, bleiben ungelöst. Das ist wirklich kriminell.
Quelle: junge Welt (ots) von Peter Steiniger