Das WESTFALEN-BLATT (Bielefeld) zur Türkei
Archivmeldung vom 24.07.2007
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittDer Wahlsieg der regierenden AKP hat einen einfachen Grund: Den Türken geht es gut. Das Land erlebt einen Aufschwung wie nie seit Gründung der Republik. Die Wirtschaft wächst, die türkische Lira ist stark wie nie zuvor, die öffentlichen Finanzen nahezu konsolidiert, der persönliche Wohlstand weitet sich aus. Never change a winning horse, sagen die Briten, warum sollten die Türken anders denken?
Das umso mehr, als die anderen Parteien das Land an den Rand des
Bankrotts geführt hatten - bis der Internationale Währungsfonds vor
sechs Jahren die Notbremse zog und mit einer Rosskur den kranken
Mann am Bosporus vor der Misere rettete. Sicher, man kann über das
Verdienst am Aufschwung streiten, aber Erdogan und seine Mannschaft
haben ihn zumindest nicht verhindert.
Erdogan mag als orthodoxer Muslim ein ambivalentes Verhältnis zur
Demokratie und ihren Wertemaßstäben (Gleichstellung der Frau,
Religionsfreiheit, Trennung von Staat und Religion) haben, als
Wahlkämpfer ist er nicht zu schlagen. Indem er Sozialdemokraten und
Liberale in seine Kernmannschaft berief - und damit seinem
französischen EU-Widersacher Sarkozy nacheiferte -, zerstreute er
Zweifel.
Die Wähler sahen darin eine Garantie für die Fortsetzung des
liberalen Wirtschaftskurses. Die aufstrebende Mittelschicht, vielfach
junge Unternehmer, hat nur noch eine nebelhaft verschwommene
Erinnerung an die alte politische Klasse, zu der die Korruption
gehörte wie ein maßgeschneiderter Anzug.
Auch Erdogan hat manches in die eigene Tasche oder in die seiner
politischen Freunde fließen lassen. Aber es blieb noch genug für das
Volk.
Kritisch wird es jetzt, wenn die Präsidentenfrage erneut auf den
Tisch des Parlaments gelegt wird. Gestärkt durch das Votum des Volkes
wird Erdogan es natürlich probieren. Die Generäle, die Gralshüter des
Kemalismus, sind jetzt in einer heiklen Lage, um nicht zu sagen: in
einem Dilemma.
Wenn sie den Kandidaten Erdogans nicht verhindern, werden sie
entmachtet. Verhindern sie ihn, riskieren sie den Aufstand der
Straße. In solch einer Situation greifen Militärs gern zu einem
probaten Mittel: zu militärischen Aktionen, in diesem Fall gegen die
Kurden, möglicherweise bis in den Irak. Das würde eine neue Lage
schaffen, in der auch Erdogan erstmal stillhalten und sich mit den
Generälen solidarisch zeigen müsste. Sonst riskiert er, die Gunst der
national denkenden Bevölkerung zu verlieren.
Die Religionsfreiheit ist, um ein geflügeltes Wort zu gebrauchen, die
Mutter aller Freiheiten. Ohne sie gibt es keine Toleranz und keine
Herrschaft des Rechts. Ohne sie gibt es auch keine Freiheit von
Ideologien wie dem Nationalismus. Die wirkliche Machtprobe steht der
Türkei noch bevor. Und zu behaupten, die Türkei habe sich mit dieser
Wahl europatauglich gezeigt, ist doch sehr verfrüht. Denn: Demokratie
ist nur eine Form, entscheidend ist der Primat des Rechts und der
Freiheit.
Quelle: Pressemitteilung Westfalen-Blatt