Vorteil Berlin
Archivmeldung vom 08.06.2022
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Freigeschaltet durch Sanjo BabićDu bist verrückt, mein Kind, Du musst nach Berlin, heißt es in einem Gassenhauer, der bisweilen fälschlicherweise dem österreichischen Komponisten Franz von Suppè zugeschrieben wird. Den Drang nach Berlin verspürt auch die Deutsche Bank, der aus dem russischen Überfall auf die Ukraine die Notwendigkeit erwachsen ist, einen neuen Standort zu finden für die bislang in Moskau angesiedelten IT-Experten. Den Umzug an den Main mag man den kreativen Köpfen aus einer der gesuchtesten Branchen offenbar nicht zumuten - auch wenn es der hessischen Landesregierung und anderen Förderern des Finanzplatzes gewiss besser gefallen hätte.
Ob die Entscheidung, rund 1 000 Arbeitsplätze in Berlin statt in der Bankenmetropole anzusiedeln, buchstäblich mit Verrücktheit zu tun hat, darf bezweifelt werden. Naheliegender ist es, dass die Deutsche Bank auf die geografische wie auch kulturelle Nähe zwischen Moskau und Berlin gesetzt hat. Beiden Städten muss kein Attribut vorangestellt werden, um als Metropole durchzugehen. Wer sich die Mühe macht, Visa für russische IT-Fachleute zu beantragen, wird kaum riskieren wollen, dass diese bei nächster Gelegenheit wieder von der Stange gehen, um wieder Hauptstadtluft zu atmen.
Ein weiteres Argument für die Standortwahl dürfte sich aus einem Umstand ergeben, der auf die zweite Zeile des Hauptstadtschlagers verweist: Wo die Verrückten sind, dort gehörst Du hin. Tatsächlich gibt es nirgendwo in Deutschland so viele Fintechs wie in Berlin. Dabei sind die Zeiten, in denen es die billigen Mieten und der Faktor Nachtleben waren, die Gründerinnen und Gründer anlockten, längst vorbei. Inzwischen sind die Größe und die Vielfalt der Szene zum ausschlaggebenden Kriterium geworden.
Neben der größten Einhornherde beherbergt die Hauptstadt mit der Technischen Universität Berlin auch eine der gründungsstärksten Hochschulen Deutschlands. Nicht jedes Spin-off, das sich mit Unterstützung des Centre for Entrepreneurship an den Markt wagt, schreibt Erfolgsgeschichte. Der Berliner Standortförderung jedoch, die sich wohl auch infolge des historisch bedingten Mangels an privatwirtschaftlichen Unternehmen bereits in den frühen 1980er Jahren auf Gründer konzentrierte, kann man den Erfolg kaum absprechen. An Leuten mit frischen Ideen, Abstand zum herkömmlichen Bankgeschäft und auch dem Mut zum Scheitern herrscht kein Mangel. Ein optimales Umfeld für einen Koloss wie die Deutsche Bank, der sich neu erfinden will.
Quelle: Börsen-Zeitung (ots) von Anna Sleegers