WAZ: Das Jahr der Ernüchterung
Archivmeldung vom 30.08.2016
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Freigeschaltet durch André Ott300.000? 500.000? Eine Million? In der Diskussion, wie viele Flüchtlinge ein Land von der Größe und Leistungsfähigkeit der Bundesrepublik verkraften kann, stand die Frage nach den Grenzen der Belastbarkeit schnell ganz oben auf der Tagesordnung. Es ist die berüchtigte Frage nach der Obergrenze, der nicht nur Angela Merkel immer aus dem Wege ging. Das historische "Wir schaffen das" der Kanzlerin, genau heute vor einem Jahr auf ihrer Sommerpressekonferenz formuliert, setzte genau genommen immer auf die Dehnbarkeit gleich zweier Tugenden: die der neuen deutschen Willkommenskultur und die des alten deutschen Organisationstalents.
"Wir schaffen das, und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden", führte Merkel damals weiter aus. Es war schnell klar, dass das Überwinden viel Arbeit mit sich bringen wird. Weniger klar war, wem genau was im Wege steht und wer es überwinden muss. Denn eine Blaupause für eine durchdachte und sozialverträgliche Aufnahme und Unterbringung so vieler Menschen in so kurzer Zeit gab und gibt es nicht. Das war von Anfang an das Risiko des Merkel-Satzes.
Innerhalb von nur zwölf Monaten ist die Bevölkerung Deutschlands um die Einwohnerzahl der Stadt Köln gewachsen. Kein Land der Welt ist auf einen derartigen Bevölkerungssprung vorbereitet. Im Jahr eins nach Merkels Satz lässt sich immerhin sagen: Die Flüchtlingskrise hat Land und Leute nicht in die Knie gezwungen.
Doch nach der Willkommens-Euphorie im letzten Herbst ist die Stimmung bei vielen Menschen längst umgeschlagen. Selbst unter Wohlwollenden macht sich Ernüchterung breit. Denn es sind die Mühen der Ebene erreicht: ein riesiger Antragsstau im Bundesamt für Migration, überlastete Verwaltungsgerichte, kaum abbaubare Überstundenberge bei Behörden.
Auch das im Sommer als Durchbruch gefeierte Integrationsgesetz muss sich noch bewähren. Wie sich jetzt zeigt, ist die Wohnsitzauflage, die die Lasten der Integration gleichmäßiger verteilen soll, alles andere als durchdacht. Und wieder einmal werden Probleme durchgereicht: an unsere Städte.
Quelle: Kommentar von Michael Kohlstadt - Westdeutsche Allgemeine Zeitung (ots)