WAZ: Gesellschaftspolitik im Zentrum
Archivmeldung vom 12.02.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittIn den vergangenen Jahren konkurrierten die Volksparteien hauptsächlich um die Hoheit über die Wirtschaftskompetenz. Gerhard Schröder betrieb die Aufholjagd der SPD derart entschieden, dass er sich den Titel "Genosse der Bosse" zuzog.
Nachdem Rot-Grün die Agenda 2010 durchgesetzt hatte, glaubte Angela Merkel aufholen zu müssen, was in den Reformwahlkampf 2005 mündete - und in den verlorenen Sieg. Nach der Wahl in Hessen und vor der Wahl in Hamburg sowie mit dem Blick auf die nächste Bundestagswahl melden sich aus Union und SPD gelegentlich Politiker, die ihre Parteien ermahnen: Ohne Wirtschaftskompetenz geht es nicht. Den Wahlkampf in Hamburg (und 2009 im Bund?) aber bestreiten beide Parteien mit gesellschaftspolitischen Themen. Das hat mehrere Gründe. Zum einen zeigt die Analyse der Wahl in Hessen, dass die geballte Wirtschaftskompetenz von Roland Koch kaum jemanden beeindruckt hat. Wähler haben sich für die Schulprobleme ihrer Kinder interessiert und ein wenig noch für Mindestlöhne. Daraus könnte man lesen, dass Menschen sich nicht weiter mit der Wirtschaft beschäftigen, wenn alles gut läuft.
Tatsächlich aber teilen Wähler überwiegend die Empfindung, dass
der Aufschwung bei ihnen nicht angekommen sei und wissen, dass er an
Schwung verliert. Gleichzeitig haben sie viel über die
Gestaltungskraft der Bundesregierung gelernt. Der Börsenkrise
begegnete die Koalition mit entschlossenen Appellen, nicht in Panik
zu verfallen. Nach der Standortflucht von Nokia warfen einige
Politiker ihr Handy weg. Und während der Diskussion über
astronomische Bezüge für Manager sagte Kanzlerin Angela Merkel, dass
sie überhöhte Gehälter nicht gut finde.
Womöglich halten viele Menschen das wirtschaftliche Geschehen
inzwischen für höhere Gewalt, die sich irgendwo zwischen der EU und
den unbeherrschbaren Finanzmärkten entfaltet. Das wäre für die
Volksparteien verhängnisvoll, die doch gerade erst und viel zu spät
erkannt haben, dass Familienpolitik und Bildungspolitik die
Grundlagen der Wirtschaftspolitik in einem Land bilden, das sich im
Strukturwandel zu einer Wissensgesellschaft befindet.
So deutlich möchte die Große Koalition das auch nicht erklären,
denn sie hat insbesondere die Bildungspolitik derart gering
geschätzt, dass sie im Zuge der Föderalismusreform Zuständigkeiten an
die Länder abgegeben hat, statt Kompetenzen zurückzugewinnen.
Ersatzweise soll nun das Kindergeld erhöht werden.
Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (von Angela Gareis)