LVZ: Fataler Aktionismus
Archivmeldung vom 23.04.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittSie werfen mit Steinen, zerbrechen Windschutzscheiben und blockieren Straßen und Stromzufuhr: Seit Wochen gehen Menschen weltweit gegen hohe Lebensmittelpreise auf die Straße. In Burkina Faso, Bangladesch oder Haiti fühlt sich die arme Stadtbevölkerung in ihrer Existenz bedroht, weil Essen für sie kaum mehr bezahlbar ist.
Allein diese verheerende Situation hätte aber kaum genügt, um deutsche Politiker aus ihrem Tiefschlaf zu reißen. Weil aber auch bei den Deutschen ein Loch im Geldbeutel gähnt und eine steigende Zahl von Menschen befürchtet, sich bestimmte Lebensmittel in Zukunft nicht mehr leisten zu können, reiben sich Seehofer & Co. plötzlich die Augen. Hurtig werden Arbeitsgruppen gegründet und vermeintlich einfache Lösungen aus den Schubladen gekramt. Als wäre das Problem des Hungers auf der Welt praktisch über Nacht aufgetreten, fordert Landwirtschaftsminister Seehofer unvermittelt eine Agrarwende, die FDP will fairen Wettbewerb statt Subventionstropf für die Landwirte und Entwicklungsministerin Wieczorek-Zeul versucht sich mit einer besonders nachhaltigen Strategie: Man solle die Biosprit-Produktion doch einfach so lange einstellen, bis sich die Märkte wieder beruhigt haben, meint Heidemarie. Wenn es um Ernährung und Bioenergie geht, sind solche gegenseitigen schnellen Schuldzuweisungen und der Aktionismus besonders fatal. Ein Patentrezept gibt es hier nicht, die Entwicklungen sind teilweise widersprüchlich, unübersichtlich und bedingen sich gegenseitig. So trägt der mittlerweile in die Kritik geratenen Ausbau der Biokraftstoffe in den westlichen Wirtschaftsnationen nicht allein Schuld an der Verknappung und Verteuerung wichtiger Rohstoffe wie Weizen oder Mais. Subventionen sind zum Erhalt von Arbeitsplätzen oder der Kulturlandschaft durchaus berechtigt und eine rein nationale Agrarstrategie hilft nicht im Kampf gegen die weltweite Lebensmittelkrise. Hier muss klar zwischen Nothilfen und langfristigen Strategien getrennt werden. Kurzfristig gilt es, die Millionen von Menschen, die von Hunger bedroht sind, durch Soforthilfen der Industrieländer zu unterstützen. Langfristig sollte die Politik über ein differenziertes Maßnahmenpaket nachdenken, das die Basis für einen faireren, globalen Handel mit Agrarprodukten schafft. Dazu zählt eine stärkere Kontrolle der Agrar-Heuschrecken an den Börsen, der Abbau von EU-Exportsubventionen, die verstärkte Förderung von kleinbäuerlicher Landwirtschaft und die Überprüfung der europäischen Biosprit-Ziele. Die Entwicklungsländer müssen langfristig in die Lage versetzt werden, einen Großteil ihres Eigenbedarfs zu stellen und sich selbst zu ernähren. Eine höhere Nahrungsmittelproduktion in Europa à la Seehofer nützt den von der Ernährungskrise gebeutelten Ländern überhaupt nichts.
Quelle: Leipziger Volkszeitung (von Ellen Großhans)