WAZ: Menschen verlieren ihre Bindungen
Archivmeldung vom 03.04.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittMan könnte es ja mit Humor nehmen, so wie der unbekannte Autor dieses Aphorismus: "Mit Unsicherheit leben. Mit Sicherheit sterben." Doch vielen ist das Lachen vergangen. Zu sehr wird das Leben von immer mehr Menschen durch Unsicherheiten, Unwägbarkeiten und Bedrohungen geprägt. Dies wiegt umso schwerer, als selbst Institutionen, die sich einst als Orte der Sicherheit auszeichneten, ihre Anker-Funktion verlieren.
Die christlichen Kirchen, die zu Ostern die Auferstehung Jesu von den Toten und damit das bedeutendste Fest des Christentums begehen, haben die Bindung zu weiten Teilen der Bevölkerung verloren. Durch die Missbrauchsskandale vor allem in der katholischen Kirche - und durch den falschen Umgang der Amtskirche mit den Verfehlungen in den eigenen Reihen - verbreitert sich die Kluft weiter.
Auch die Berufswelt wandelt sich zum Ungewissen. Ein (fester) Arbeitsplatz bedeutete früher mit einiger Wahrscheinlichkeit ein gesichertes Auskommen. Heute, da Leiharbeit, Zeitarbeit und befristete Arbeitsverträge immer weiter verbreitet sind, bietet der Job kein Ruhekissen mehr. Das wiederum hat Auswirkungen aufs Privatleben. Wer kein halbwegs planbares Einkommen hat, überlegt es sich dreimal, ob er ein Haus baut, heiratet oder ein Kind haben will. Gespartes? Wertpapiere? Börsenzockerei und Bankenkrise haben unser Finanzwesen eben erst an den Rand des Kollaps getrieben. Und wann kommt die nächste Krise?
Glaube, Beruf, Rücklagen, Familie - die traditionellen Anker im Alltag verschwinden oder geraten ins Schwimmen. Und auch der Staat, verschuldet wie nie zuvor, zieht sich aus seiner fürsorglichen Rolle zurück. Orientierung, Zuversicht, Vertrauen - allesamt Worte und Werte von gestern also?
Nein, wir sollten uns diese Werte nicht nehmen lassen. Wir sollten stattdessen noch einen hinzufügen: Verantwortung. Wir sollten Verantwortung übernehmen für all jene, die - siehe oben - jeglichen Halt verloren haben. Wir sollten uns kümmern und hinsehen, statt gleichgültig wegzuschauen. Wir sollten uns engagieren.
Zehntausende Menschen in NRW tun dies bereits - freiwillig, als Ehrenamtler in Nachbarschaft und Kollegenkreis, in Vereinen, Initiativen, kirchlichen Einrichtungen, in Parteien. Diese Chance, dem Leben mit einer ehrenamtlichen Tätigkeit einen neuen Inhalt zu geben, bietet sich jedem von uns. Ostern ist nicht die schlechteste Gelegenheit, damit zu beginnen.
Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung