Leipziger Volkszeitung zu 100 Tagen große Koalition
Archivmeldung vom 01.03.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittHundert Tage nach dem von viel Skepsis begleiteten Start der großen Koalition nehmen die Huldigungen für die Chefin fast schon beängstigende Ausmaße an. Bundespräsident Köhler lobt die Kanzlerin über den grünen Klee.
800 Industriekapitäne zeigen sich in einer
Managerbefragung mehr als angetan von ihrem Führungsstil und Umfragen
- wie das aktuelle Meinungsbarometer dieser Zeitung - bringen für
Angela Merkel traumhafte Sympathiewerte. Verrückt nach Angie, heißt
die politische Telenovela aus einem Land, das wieder ein bisschen
mehr an sich selbst glaubt. Da passte es doch wunderbar in das
Drehbuch, dass bei den Winterspielen in Turin die meisten Sieger aus
Deutschland kamen.
Zum ersten Mal seit langem ist die gefühlte Lage besser als die
tatsächliche. Der Stimmungsumschwung kommt umso überraschender, weil
ihn beim Beginn der schwarz-roten Zwangsehe selbst die kühnsten
Optimisten in dieser Form nicht erwartet hätten. Doch die
Unaufgeregtheit, der über weite Strecken gezeigte nüchterne
Pragmatismus, mit dem das politische Pensum in Berlin bislang
abgespult wird, trifft offenbar genau den Nerv in Ost und West.
Zermürbt vom jahrelangen Stellungskrieg zwischen rot-grüner Regierung
und Opposition, wo die Kunst der Selbstdarsteller oft wichtiger
schien als drängende Entscheidungen zu treffen, wird die neue
Sachlichkeit im Bundeskabinett als wohltuend empfunden. Kopf statt
Bauch, weniger öffentlich streiten und mehr zweckorientiert handeln -
diesen politischen Paradigmenwechsel im Berliner Biotop vollzogen zu
haben, kann sich die Kanzlerin als Erfolg ihrer 100-Tage-Bilanz
anrechnen.
Der Glanz dieser ersten Regierungsetappe ist allerdings auch
trügerisch. Merkels außenpolitische Erfolge auf den roten Teppichen
von Paris, Moskau und Washington können die eher mageren Ergebnisse
bei den dringend notwendigen Reformen zu Hause nur notdürftig
kaschieren. Noch immer sind über fünf Millionen in diesem Land ohne
Job. Noch immer hindern zu hohe Lohnzusatzkosten viele Unternehmen an
Neueinstellungen. Noch immer lassen zu hohe Sozialabgaben die
Arbeitnehmer das Geld lieber zusammenhalten als ausgeben. Und noch
immer wird bei den Themen Rente und Gesundheit mehr geflickschustert
als dass ein strategisches Konzept erkennbar ist.
Der gefühlte Stimmungsumschwung, gut und schön. Doch ohne
konsequente, auch schmerzhafte sozialpolitische und wirtschaftliche
Entscheidungen, wird der Aufschwung eine Fata Morgana bleiben. Das
ist es aber, was am Ende zählt. Auch wenn ab heute das Land zur
Dauerparty rüstet. Auf hundert Tage Schwarz-Rot folgen hundert Tage
bis zur Fußball-WM. Vorsicht, danach droht der Kater - und bittere
Wahrheiten.
Quelle: Pressemitteilung Leipziger Volkszeitung