Leipziger Volkszeitung zu Koalition/Türkei
Archivmeldung vom 12.12.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittIm knirschenden Getriebe der großen Koalition hatte es im ersten Jahr überraschend auch ein Themenfeld ohne Reibungsverluste gegeben: CDU-Kanzlerin Merkel funkte mit SPD-Außenminister Steinmeier stets auf gleicher Wellenlänge. Vom Libanon bis zum Irak - wer davor gewarnt hatte, dass alte außenpolitische Reibereien zwischen Union und SPD das Koalitionsklima von Anfang an belasten könnten, musste sich bislang revidieren.
Doch der mühsam bewahrte Burgfrieden gerät nun ins Wanken, die
politische Zwangsgemeinschaft bekommt auch hier erste Risse. Denn an
der Türkei-Frage scheiden sich die Geister. Die Kanzlerin plädiert
wie in der letzten Woche beim Treffen mit dem französischen
Präsidenten Chirac dafür, bei weiteren EU-Beitrittsverhandlungen den
Druck auf Ankara zu erhöhen. Ressortchef Steinmeier will dagegen
trotzige türkische Überreaktionen vermeiden und segelt auf moderatem
Kurs.
Die schwer zu übertünchenden außenpolitischen Dissonanzen kommen für
die Koalition zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Die
EU-Ratspräsidentschaft steht ab Januar bevor, da könnte öffentlich
zelebrierte Streitlust den angestrebten Erfolg von vornherein als
utopisch erscheinen lassen. Und auch als Gastgeber des G-8-Gipfels im
kommenden Sommer will man sich keine Blöße geben. Denn eine
Hü-und-Hott-Koalition, die sich bei der wichtigsten europäischen
Frage nicht einig ist, würde im Fokus des Weltinteresses einen
ziemlich peinlichen Eindruck hinterlassen.
Die jetzt in Berlin schnell betriebene Schadensbegrenzung ist dann
nur der hilflose Versuch, nicht noch mehr Öl ins Feuer zu gießen. Die
Beruhigungspillen werden lediglich für kurze Zeit wirken. Der Blick
auf das parallel laufende Treffen der EU-Außenminister zeigt, wie
tief die Gräben zwischen den einzelnen Positionen mittlerweile sind.
Brüssel kann als eine Art Spiegelbild für die Koalition gelten. Trotz
eilig bekundeter Gemeinsamkeiten:Zwischen der von der Union und von
Merkel konsequent und richtig geforderten privilegierten
Partnerschaft für die Türkei und der von der SPD-Spitze angestrebten
EU-Vollmitgliedschaft klafft eine unüberbrückbar scheinende Lücke.
Konfrontriert mit den Forderungen seiner Partei, die ihren
Außenminister auch als eine Art außenpolitischen Erblassverwalter für
Ex-Kanzler Schröder betrachtet, wird Steinmeier zum Spagat genötigt,
der für ihn zur Zerreißprobe wird. Und wenn die SPD jetzt davor
warnt, den Türkei-Beitritt innenpolitisch zu missbrauchen, dann
klingt das wie das Pfeifen im Walde. Wer als Volkspartei
offensichtlich Angst hat, über die zentrale europäische Frage zu
diskutieren, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, schon sehr weit
weg vom Wähler zu sein.
Quelle: Pressemitteilung Leipziger Volkszeitung