WAZ: Klinsmann, Klitschko und der Rummel
Archivmeldung vom 14.07.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittJede Menge Trainingsspielchen. Natürlich nicht außergewöhnlich um diese Jahreszeit, im Vorstadium der neuen Bundesliga-Saison. Sie tüfteln, sie testen, sie überprüfen die Leistungsfähigkeit ihrer Stars, sie loten aus, was demnächst sportlich machbar sein könnte, und reisen deshalb auch über die Dörfer.
Das ist bei Schalke 04 und Borussia Dortmund, beim VfL Bochum, der Gladbacher Borussia und dem 1. FC Köln normalerweise nicht anders als beim Hamburger Sportverein, dem VfB Stuttgart oder dem FC Bayern München: Hinfahren, gewinnen, Kurznotizen für den Ergebnisteil der Zeitungen hinterlassen.
Doch Sonntag offenbarte sich ein Unterschied zwischen dem Rest
der Liga und dem Rekordmeister, der beim SV 08 Lippstadt Hof hielt
und eine Hundertschaft an schreibenden, fotografierenden
Berichterstattern sowie 8000 Fans auf die Beine brachte, obwohl
lediglich eine Bayern-B-Mannschaft in der westfälischen Provinz
antrat, bei einem Amateurklub aus der sechsten Klasse. Auslöser für
diesen Rummel war jedoch nicht das laufende Personal, sondern der
lehrende Chef, der neue Trainer Jürgen Klinsmann. Allein auf ihn
fokussierte sich das öffentliche Interesse, allein seinetwegen haben
die regionalen Fernsehanstalten Bayern drei und WDR über zwei Stunden
bester Sendezeit zur Verfügung gestellt. Ohne ihn wäre es ein
Testspiel von untergeordneter Bedeutung gewesen, aber mit ihm wurde
es ein Happening von gleichsam herausragendem Rang.
Der Vorgang könnte als lächerlich abgetan werden, als Indiz für
die Hysterie der Medien-Macher. Doch tatsächlich spiegelt er offenbar
den Zeitgeschmack der so genannten Fans, die nach Namen, nach Idolen
(auch durchaus fragwürdigen), nach Sensationen gieren. Deshalb rennen
sie zu Klinsmann, obwohl der als Vereinstrainer noch kein einziges
Pflichtspiel gewonnen hat und lediglich von jenem Bonus zehrt, den er
sich als eigenwillig-extravaganter Teamchef der Nationalmannschaft
erwarb. Und deshalb umzingeln sie auch den Ring, wenn einer der
beiden Klitschkos zum Boxen auf die Matte stiefelt.
Als Wladimir Klitschko jetzt in Hamburg gegen Tony Thompson den
Titel verteidigte, ist die mehr oder minder berühmte Garde deutscher
Film- und Fernseh-Stars aufmarschiert. Von Veronica Ferres, die
offenbar nichts mehr auslässt, bis hin zu Uschi Glas und Ralf Möller,
dem Hollywood-Hünen aus Recklinghausen. Kann sein, dass sie auch den
Kampf sehen wollten. Doch vermutlich wollten vor allem sie gesehen
werden.
Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (von Hans-Josef Justen)