Westfalen-Blatt: Das Westfalen-Blatt (Bielefeld) zum Thema Mindestlohn
Archivmeldung vom 18.02.2008
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 18.02.2008 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittSie sind nicht zu übersehen: die junge Frau, die schon mehr Löcher als Zähne im Mund hat und täglich vor dem Bahnhof bettelt. Und der ältere Obdachlose, der in den Mülleimern nach Lebensmitteln sucht - nicht irgendwo, sondern mitten unter uns.
Die Frau und der Mann, sie stehen dafür, dass in diesem Staat nicht mehr alles in Ordnung ist. Nun folgen gern weitere Klagen, zum Beispiel - über die Löhne, die unterm Strich seit vielen Jahren rückläufig sind, - über die Renten, die ebenfalls netto sinken und - über den privaten Anteil der Gesundheitsausgaben, der umgekehrt ständig wächst. Die Klagen enden mit der Forderung: Mit der »Spirale nach unten« muss Schluss sein! Die Konjunktur gedeiht, und selbst der Arbeitsmarkt entspannt sich. Wenn also nicht jetzt, wann dann? Wenn nicht beim Thema Mindestlohn, wo sonst? Dabei ist genau der Mindestlohn der falsche Ansatz für Sozialpolitik. Sicher ist die Forderung grundsätzlich berechtigt, dass jemand, der volle 38 oder 40 Stunden arbeitet, mindestens soviel verdienen sollte, dass er davon seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Nur sollte dieser Betrag im Tarifvertrag und nicht vom Staat festgesetzt werden. Denn was geschieht, wenn die Leistung des Arbeitnehmers nicht ausreicht, den vollen Lohn zu bezahlen? Was, wenn nicht nur die Ausbildung fehlt, sondern weitere Grundvoraussetzungen für die Teilnahme am Arbeitsleben? Was, wenn der Arbeitsuchende mit Schülern oder Rentnern konkurriert, die sich - vielleicht auf dem Umweg über 400-Euro-Jobs - seine Arbeit teilen möchten? Oder, schwieriger noch, mit Schwarzarbeitern? Oder mit Rumänen, die einen Bruchteil seiner Ansprüche erheben? Es geht beim Mindestlohn um jene, die am Rande stehen. Jene, die sich früher zum Beispiel als Hilfskräfte in der Fabrik, als Dienstmädchen im Haus, als Botengänger, Wäscherinnen, Lastenträger oder als Handlanger im Wirtshaus, im Laden oder in einem Handwerksbetrieb oder irgendwo sonst nützlich gemacht haben. Sie wurden nicht reich. Aber sie genossen eine Form von Anerkennung. Arbeitgeber klagen immer wieder, ein Teil der Jugendlichen - 15, 20 Prozent? - sei nicht ausbildungsfähig. Einige lassen sich durch Fördern und Fordern noch verändern. Doch was geschieht mit den anderen? Erst wurden die niedrigen Lohngruppen angehoben, dann wurden sie wegrationalisiert. Dieser Prozess würde durch einen staatlich verordneten Mindestlohn erneut angekurbelt. Besser, als dass die Leute gar nichts verdienen, ist es, sie erhalten wenig und können es mit ein bisschen staatlicher Zusatzleistung auffüllen. Sich für den Mindestlohn einzusetzen, klingt sozial. Doch wer Bettlerinnen am Bahnhof und Obdachlose am Mülleimer verhindern will, muss andere, vielleicht unpopuläre Wege gehen.
Quelle: Westfalen-Blatt