WAZ: Streit in der Koalition
Archivmeldung vom 26.02.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittAch, unser täglicher Guido Westerwelle. So schädlich ist die Debatte, die er angezettelt hat, nun auch wieder nicht. Schlimm wäre nur, wenn sie folgenlos bliebe - und in ein paar Wochen oder Monaten würde dann die nächste Sau durchs Dorf gejagt.
Wenn der FDP-Chef über Hartz IV reden will, bitte schön! Sprechen wir über Regelsätze, das Karlsruher Urteil, über Alleinerziehende in Not, über die 2,4 Millionen Kinder in und am Rande der Armut. Oder über Hinzuverdienstgrenzen und derlei Sperriges. Im Sozialstaat sind mit Sicherheit noch große Effizienzreserven. Aber um in der Debatte zu bestehen, muss einer sich gut auskennen: Stellschrauben, Sachzwänge, die Wechselwirkungen. Westerwelle hat geredet, ohne ein Konzept in der Schublade zu haben. Es ist nicht neu, dass einer vor allem auf die Lufthoheit bedacht ist. Wer in der Politik sollte den ersten Stein werfen? Erstaunlicher ist, dass ihm das keiner durchgehen lässt, seine Koalitionspartner schon gar nicht. So kommt er Merkel nicht davon. In der Koalitionsrunde wurde ihm das Einmaleins der Sozialpolitik vorgerechnet. Der Umgang verrät: Sie vermissen bei Westerwelle Substanz.
Sachkonflikte gibt es in jeder Koalition, ebenso kantige Leute. Das einzige Alarmzeichen ist, dass Merkel und Westerwelle öffentlich, in Interviews und Beiträgen, miteinander streiten. Wenn es in einer Koalition Mitglieder gibt, die nicht über, sondern miteinander re-den sollten, dann die Kanzlerin und ihr Vize. Wenn sie sich offen streiten, brennt die Luft.
Dabei wird die FDP auch gelinkt. Bei einigen Fragen fordert sie bloß, was im Koalitionsvertrag vereinbart ist. Das gilt für die Atom-, die Steuerfrage, und die Kopfpauschale ist auch keine fixe Idee der FDP. Die Union hat den Vertrag unterschrieben, aber sich vorgenommen, den Liberalen alle Zähne zu ziehen. So entsteht kein Vertrauen, kein Respekt, keine Kollegialität. Kollegial wäre, wenn man zur Seite steht, wenn der Partner sich verrannt hat. Nicht kollegial ist insbesondere, wenn das Rolltor bei jeder FDP-Initiative gleich ge-schlossen wird. Man könnte meinen, Union und FDP würden seit vier Jahren regieren und hätten sich satt. Es sind nur vier Monate gewesen.
Westerwelle hat freilich in der Sozialstaats-Debatte auch einen kapitalen Bock geschossen. Die SPD sollte ihn zum Mitarbeiter des Monats erklären. Das Karlsruher Urteil sollte SPD und Grüne zu denken geben. Sie haben mit Hartz eine Reform durchgesetzt, die einer Prüfung nicht standhielt. Die Genossen müssten ob des Urteils rot werden, wenn Westerwelle nicht dazwischen gekommen wäre mit seiner spätrömischen Dekadenz.
Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung