Berliner Morgenpost: Der Fall Schmidt oder: Aller Abschied ist schwer
Archivmeldung vom 19.08.2009
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittEs gibt viele Menschen, die den Absprung nicht schaffen. Die den richtigen Moment verpassen, noch eine Saison dranhängen, noch mal kandidieren, sich unverzichtbar fühlen und dabei langsam, aber sicher zur Witzfigur werden.
Im Sport, in der Politik, im Geschäftsleben, wo immer Erfolg in viel Geld, Ruhm, Einfluss und Schulterklopfen umgewandelt wird, mögen Menschen nur ungern gehen, sich anderem zuwenden, neue Wege finden. Abschied nehmen ist schwer, Privilegien aufgeben noch schwerer. Ein Leben ohne Dienstwagen für manchen einmal von diesem bescheidenen Glück Geküssten schier unvorstellbar. Wir stellen uns also kurz schlafend und träumen: Ulla Schmidt im Urlaub, ohne S-Klasse, ohne Chauffeur, ohne Dienstsiegel, ohne offizielle Reiseschreibmaschine. Unerreichbar im Nichts. Einfach nur Erholen. Schauderhaft. Wir hier zu Haus wären der Pharmalobby ausgeliefert; sie da im Irgendwo könnte sich nicht rettend vor die Privatisierung des Gesundheitswesens werfen. Es wäre schrecklich. Schrecklich, schrecklich sogar, zumal der Rechnungshof ja bestätigt hat, dass einer Ministerin diese Art professioneller Reiseausrüstung uneingeschränkt zusteht. Jedenfalls solange sie sich in ihrem Dénia-Urlaub wenigstens kurzzeitig um die dort siedelnden Deutschpensionäre kümmert und den anderen, den privaten Teil ihrer Tour als geldwerten Vorteil beim Kollegen Steinbrück anmeldet. Wir haben jetzt den ministeriellen Arbeitsstab geradezu vor Augen, wie er Jahr für Jahr die Costa Blanca durchforstet nach Rentnern mit deutschem Pass. Da muss doch noch ein Pflegeheim zu finden sein zwischen Gandía und Torrevieja. Sonst müsste sich Frau Ministerin ja nach einer anderen Urlaubsregion umsehen. Oder auch noch die Anreise von Auto samt Chauffeur privat versteuern. Oje! Das Bemerkenswerteste an dieser sommerlichen Dienstwagenaffäre ist, dass Ulla Schmidt, die ja als dienstälteste Gesundheitsministerin Europas keine Anfängerin ist in diesem Geschäft, nicht ansatzweise merkt, wie hohl und selbstgerecht ihre Verteidigungsreden klingen. Sie durfte und darf ja ihren Dienstwagen mit in den Urlaub nehmen. Das muss regelkonform geschehen, und wenn es mal nicht passiert ist, aus welchen Gründen auch immer, dann kann man das geraderücken, vorsorgen, dass der Fehler kein zweites Mal passiert und gut ist. Aber man raune uns bitte nicht wieder und wieder vor, das alles geschehe zum Wohle des deutschen Volkes, seiner Pensionäre im Westzipfel Spaniens oder der gesetzlich Versicherten, die vor den Fängen der Gesundheitslobby zu bewahren seien. Das ist lächerlich, spricht für ein gehöriges Maß an Selbstüberschätzung, liefert dem politischen Gegner Wahlkampfmunition, schadet dem Ansehen der Politik insgesamt und dem des angestrengten SPD-Kanzlerkandidaten im Besonderen. Wenn man so will, sabotiert Ulla Schmidt gerade ihre eigene Politik. So gesehen sollte sie vielleicht doch mal über einen freiwilligen Rückzug nachdenken - auch wenn's, siehe oben, schwerfällt.
Quelle: Berliner Morgenpost