Leipziger Volkszeitung zum Nahen Osten
Archivmeldung vom 05.07.2006
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 05.07.2006 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWie beendet man eine Entführung? Mit 20 Panzern, einer Militäroffensive, mit Bomben auf zivile Objekte und jedweder Gesprächsverweigerung mit den Kidnappern! Die israelische Regierung fährt nach der Verschleppung des Soldaten Gilad Schalit sprichwörtlich schweres Geschütz auf.
So schweres, dass die Zweifel
am Sinn einer Strategie, die vor allem aus Widersprüchen besteht,
wachsen: Weshalb bombardiert die Luftwaffe Ziele in Gaza, obwohl das
Opfer in Ramallah festgehalten werden soll? Was hat die Zerstörung
von Elektrizitätswerken mit Geiselbefreiung zu tun? Warum schickt
Israel keine Diplomaten, wenn doch restlos alles getan werden soll,
um Gilad Schalit zu retten?
Es fällt schwer, in der erneuten Besetzung des Gaza-Streifens ein
schlüssiges Konzept zu erkennen. Es sei denn, man betrachtet die
Operation "Sommerregen" nicht als Geiselbefreiung, sondern als eine
schon länger geplante Kollektivstrafe für die Wahl einer falschen
palästinensischen Regierung. Die Kidnapper von Gilad Schalit haben
dafür den perfekten Vorwand geliefert. Ihr zynisches Kalkül, dass die
zu erwartende Unverhältnismäßigkeit Israel bloßstellen würde, geht
auf. Dass Regierungschef Olmert auf die Provokation reagieren würde,
war klar und von den Entführern wohl auch in seiner jetzigen Form
gewollt.
Ob es allerdings klug war, die Entführung als Anlass für die
faktische Entmachtung der Hamas-Regierung zu nutzen, wird sich erst
noch zeigen müssen. Olmerts Ziel, mit Hamas aufzuräumen, bevor sie
sich international als Ansprechpartner profilieren kann, ist naiv.
Schon im Libanon scheiterte der Versuch Israels, den Unmut der
Zivilbevölkerung gegen die eigene Regierung zu schüren, indem man die
einfachen Menschen für Fehler und Untaten der Politiker büßen ließ.
Auch der Versuch, über die Zerstörung der Infrastruktur die
Palästinenser gegen ihre Regierung aufzubringen, dürfte eher zur
Solidarisierung mit Hamas führen. Die "Kollateralschäden" jedenfalls,
die Israel im Kampf gegen den Terrorismus in Kauf nimmt, werden zu
keiner Distanzierung weiterer Anschläge führen. Vor allem aber bleibt
Olmert die Antwort auf die Frage nach einer Alternative schuldig:
Was, wenn Hamas wirklich entmachtet würde? Dass einige ihrer Führer
Kontakte zu Terrorgruppen haben und selber in frühere blutige
Anschläge verwickelt waren, ist ebenso unstrittig wie die Unfähigkeit
oder der Unwille der Selbstverwaltung, dem Raketenbeschuss auf Israel
ein Ende zu bereiten. Dennoch ist Hamas alles andere als eine
Einheitsfront im völligen Gleichschritt. Schon die Erklärung über
eine mögliche indirekte Anerkennung Israels offenbarte Differenzen
zwischen Premier Hanija, der sich um das Image eines "good guy"
bemüht, und den militanten Führern im syrischen Exil. Verschwindet
Hamas von der politischen Bildfläche, dann droht der Verlust
jeglicher Möglichkeit einer diplomatischen Einflussnahme.
Friedensregelungen ohne Diplomatie gibt es jedoch nicht.
Quelle: Pressemitteilung Leipziger Volkszeitung