WAZ: Der Trend 2006: Politik-Verdruss
Archivmeldung vom 30.12.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittReden wir nicht von Muße. Dazu ist das politische Geschäft zu hart, zu wenig feuilletonistisch, experimentell, kreativ. Aber ist nicht genau dies das Problem? Anders gefragt: Wieviel Kapitulation steckt dahinter, wenn sich Spitzenpolitiker ihre sechs, ja sieben Tage die Woche mit Terminen, nun ja - zumüllen lassen?
Zumüllen
deshalb, weil das allermeiste einer Prüfung auf Angebrachtheit nicht
standhalten würde. Treffen mit ausländischen Staats- und
Regierungschefs, bei denen eine Agenda abgehakt wird, die
Spitzendiplomaten zuvor minutiös festgelegt haben. Gremiensitzungen,
die, wenn überhaupt, dann ausschließlich sozialtherapeutische
Funktion haben. Rhetorisch dahingehaspelte Öffentlichkeitsauftritte,
weil "man" das als Politiker eben so macht, will man dem Vorwurf
entgehen, eine von der "Basis" (oft zynisch verwendetes Ersatzwort
für Funktionär, der eben nicht so gut war, um es weiter nach oben zu
schaffen) abgehobene Existenz zu führen.
Böse Frage: Wenn sich Politik keine Zeit nimmt, ist dies
vielleicht eine absichtsvolle, also selbstbestimmte Entscheidung?
Wieviel von dieser ganzen Hetze ist, war im letzten Jahr: Flucht? Wer
sich Zeit nimmt, kann durchdringen, was er tut. Er wird dann
vernünftigerweise nicht mal links, mal rechts regieren, sondern
richtig (in dem Punkt hatte Schröder ja Recht). Wer sich Zeit nimmt,
kann, muss aber eben auch, die Dinge dem Volk erklären. Hieran hat es
mit Abstand am meisten gefehlt. Kunststück: Wieviel von dem, was da
beschlossen wurde, entzieht sich seiner Erklärbarkeit? Die
Mechanismen der Verblendung gehen inzwischen so weit, dass ein
Bundespräsident, der voller Sorge um das Gemeinwesen auf diesen
grundsätzlichen Missstand aufmerksam wird, wahlweise belächelt oder
mit Empörung belegt wird.
Der Megatrend des Jahres ist Retro, er stammt aus den Siebzigern: Politikverdrossenheit. Damals konnte man es fast nicht mehr hören. Heute ist das wieder so. Und der Politik fällt wenig bis nichts ein, wie sie dem Phänomen begegnen könnte, dass sich immer mehr Menschen, wahrscheinlich so viele wie in der bundesrepublikanischen Geschichte noch nicht, von ihr abwenden. Und die Politik antwortet hilflos, indem sie die Stellschraube am Großen Ganzen einen Millimeter weiter wuchtet. Die "Zeit" schreibt, unser Lebenstempo habe sich in den vergangenen 200 Jahren verdoppelt. Für die Politik ist das ganz sicher eine schlechte Nachricht. Der fromme Wunsch fürs nächste Jahr: Entschleunigung.
Quelle: Pressemitteilung Westdeutsche Allgemeine Zeitung