Die Leipziger Volkszeitung zu EU/Türkei
Archivmeldung vom 08.12.2006
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittUnd sie bewegt sich doch, die Türkei. Aber nur ein wenig. Ein großer Schritt in Richtung EU-Beitritt wäre es noch nicht, falls Ankara tatsächlich einen Hafen und einen Flugplatz für direkte Verkehrsverbindungen aus Zypern öffnen sollte.
Aber das türkische Pokern und Bluffen um diplomatische
Millimeter-Gewinne, wo fundamentale Zugeständnisse nötig und unter
Freunden selbstverständlich wären, bringt die EU-Regierungen in eine
taktische Bredouille. Ankara versucht geschickt, einen Keil zu
treiben: zwischen jene Staaten, die die Türkei wegen prinzipieller
Bedenken lieber aus der EU heraushalten wollen und deswegen
konsequente Beitrittsanforderungen stellen, und denen, die der
türkischen Regierung selbst konfrontativen Starrsinn durchgehen
lassen wollen. Eigentlich müsste die EU die Beitrittsverhandlungen zu
einem guten Teil auf Eis legen, weil sich Ankara stur weigert, das
EU-Mitglied Zypern als Staat anzuerkennen. Aber ist das nach dieser
wohl dosierten Portion türkischen Honigs noch möglich?
Eindeutig ja. Die finnische Ratspräsidentschaft sollte sich nicht
aufs Glatteis führen lassen. Wenn die Türkei überhaupt eine Chance
auf einen EU-Beitritt haben will, muss sie Zypern ohne Wenn und Aber
und ohne Vorbedingungen komplett anerkennen. Ein bisschen
Defacto-Anerkennung Zyperns durch die Hintertür reicht nicht aus.
Auch darf sich die EU nicht auf Forderungen einlassen, im Gegenzug
direkte Verkehrsverbindungen in das türkisch dominierte Nordzypern
zuzulassen. Damit würden die EU-Regierungen eigenhändig ihrer
bisherigen Zypernpolitik die kräftigsten Zähne ziehen. Die
außenpolitische Schlappe europäischer Prinzipienlosigkeit wäre
perfekt. Es war ein strategischer Fehler, Beitrittsverhandlungen ohne
vorherige Lösung der Zypernfrage aufzunehmen. Jetzt droht ein
jahrelanges diplomatisches Gefeilsche wie auf einem Teppich-Basar.
Man kann der Regierung Erdogan bestenfalls zugute halten, dass sie
innenpolitisch wegen Zypern massiv unter Druck steht und Positionen
nur portionsweise aufgeben kann, weil ihr sonst die Abwahl droht.
Aber wenn die türkische Öffentlichkeit weitgehende Kompromisse im
Zypernkonflikt ablehnt, ist dies erst recht ein Grund, sich mit
Verhandlungen solange Zeit zu lassen, bis sich die Stimmung in der
Türkei abgekühlt hat.
Das politische Hickhack dieser Tage beweist, wie unrealistisch ein
EU-Beitritt der Türkei schon in den kommenden zehn oder 15 Jahren
ist. Fragen nach politischer Stabilität, wirtschaftlicher
Unterentwicklung in Anatolien, Menschenrechtsverletzungen, nach dem
Einfluss moslemischer Fundamentalisten sowie der Religionsfreiheit
für Nicht-Moslems wiegen auf Dauer schwerer als der Konflikt um eine
kleine, geteilte Mittelmeerinsel. Viel zu schnell haben sich die
Europäer von der Idee einer privilegierten Partnerschaft zwischen der
auf christlichen Wertewurzeln verankerten EU und der islamischen
Türkei verabschiedet, wie sie von Angela Merkel schon ins Spiel
gebracht wurde, als sie noch Oppositionsführerin war. Auch so ließe
sich Ankara stärker an Europa binden, ohne die EU geografisch zu
überdehnen und damit ihre Existenz zu gefährden.
Quelle: Pressemitteilung Leipziger Volkszeitung