BERLINER MORGENPOST: zu Merkels Regierungserklärung zu Atom
Archivmeldung vom 18.03.2011
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittAngela Merkel hat ihre Kehrtwende bei der Atomkraft im Bundestag entschlossen verteidigt. Sie hat die Regierungsfraktionen bei dem waghalsigen Manöver hinter sich gebracht. Das kann sie sich nach der Aktuellen Stunde zur deutschen Atompolitik zugute halten. Der Kurs bleibt trotzdem halsbrecherisch.
Die Kanzlerin forderte mit kämpferischem Ton, man solle nicht "die Debatten von gestern" führen. Gemeint ist die von ihr selbst im Parlament durchgesetzte Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke. Nun, ein halbes Jahr später, verteidigt sie den per Federstrich erfolgten Widerruf. Die Aufsichtsbehörde habe das Recht dazu, sagt sie. Aber dieses Recht ist ein Nothilferecht im Fall unmittelbarer Gefahr. Diese Gefahr droht aber nicht bei uns in Deutschland, sondern in Japan. Bei uns gibt es nur den unbehaglichen Blick auf Reaktoren, die still vor sich hin laufen - und auf drei unmittelbar bevorstehende Landtagswahlen. Unbehagen ist rechtlich gesehen kein Notstand. Es ist deshalb ein drastischer Schritt, per Regierungsbefehl ein parlamentarisches Gesetz aufzuheben - und sei es befristet. Polemisch gesagt putscht die Regierung aus politischer Angst gegen sich selber und wirft ein Gesetz kurz vor Landtagswahlen einfach auf den Müll. Aber für die Koalitionsparteien gilt jetzt: Augen zu und durch. Das Argument Merkels, mit dem rot-grünen Atomausstiegsgesetz wären jetzt nicht sieben, sondern nur ein alter Meiler vom Netz gegangen, ist so richtig wie hanebüchen. Die christlich-liberale Regierung hatte ja bis zu dieser Woche keineswegs vorgehabt, die sieben alten Kraftwerke umgehend stillzulegen. Sie hatte die Laufzeitverlängerung vielmehr mit dem vernehmbaren Unterton durchgesetzt, der Ausstieg aus der Kernenergie sei ohnehin Quatsch. Gemessen daran war die Bundestagsdebatte trotz der heftigen Zwischenrufe bei Merkels Rede und der Angriffe Sigmar Gabriels auf die Kanzlerin nicht so dramatisch im Ton, wie sie es hätte sein können. Die Opposition hat die Chance, der Regierung die Leviten zu lesen, nicht so genutzt, wie es möglich gewesen wäre. Sie wollte offenkundig keinen Wahlkampf auf dem Rücken der japanischen Opfer machen. Jürgen Trittin schien sogar das Argument der Kanzlerin aufzugreifen, die japanische Tragödie habe bislang unvorstellbare Risiken als realistisch erscheinen lassen. Solche Risiken hatten die Grünen der Atomkraft aber bisher stets unterstellt. Trittins Halbsatz war deshalb eine verborgen ausgestreckte Hand, ja fast eine seitwärts angedeutete Verbeugung vor der Bundeskanzlerin. Ist in seinem Hinterkopf ein neues schwarz-grünes Gedankenspiel aufgetaucht? Es würde aus Trittins Sicht sogar Sinn machen. Mit einer Atomausstiegspartei CDU könnten die Grünen ganz gut regieren. Mit der SPD haben sie zwar noch einige Gemeinsamkeiten mehr. Aber wer mehrere Eisen im Feuer hat, kann härter verhandeln. Der Atomausstieg war das einzige Thema von Gewicht, bei dem sich die Geister bei der CDU und den Grünen bisher wirklich geschieden hatten. Und das ist nun vom Tisch.
Quelle: BERLINER MORGENPOST