Russlands Motive hinter der sicherheitspolitischen Initiative
Archivmeldung vom 12.02.2022
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Freigeschaltet durch Sanjo BabićBernd Murawski schrieb den folgenden Kommentar: "Die russische Regierung dürfte wohl kaum an einen ernsthaften Verhandlungswillen des Westens in Bezug auf ihre sicherheitspolitischen Vorschläge glauben. Was sind dann aber ihre Motive, diese zu präsentieren?"
Murawski weiter: "Die von Russland seit Dezember letzten Jahres verlangten Sicherheitsgarantien und die an USA und NATO gerichteten Vertragsentwürfe mit Bitte um baldige Stellungnahme haben zu hektischen diplomatischen Aktivitäten geführt. Immer erkennbarer wird, dass der Westen nicht bereit ist, in einen ernsthaften Dialog über die russischen Bedenken und Vorschläge einzutreten. Ein deutlicher Beleg ist das Bemühen von Politikern und Medien, an deren Stelle eine vermeintlich bevorstehende Invasion der Ukraine durch Russland in den Fokus zu rücken. Die auf Entspannung gerichtete russische Initiative soll damit ins Gegenteil verkehrt werden.
Gleichsam wird über Druckmittel spekuliert, die Russland einsetzen könnte. Doch weder Hyperschallraketen noch Stützpunkte in befreundeten lateinamerikanischen Staaten dürften den Zweck einer glaubwürdigen Abschreckung erfüllen, um dem Vordringen der NATO Einhalt zu gebieten. Offenbar sind der russischen Seite nur dann Verhandlungserfolge vergönnt, wenn der Westen guten Willen zeigt.
USA statt EU als Ansprechpartner
Da es bei der russischen Initiative um europäische Sicherheitsinteressen geht, stellt sich die Frage, weshalb nicht die Regierungen der EU-Staaten als Hauptgesprächspartner ausgewählt wurden. Vor einem Jahrzehnt wäre dies vermutlich noch der Fall gewesen. Insbesondere zu Deutschland und Frankreich hatte sich ein tiefes Vertrauensverhältnis entwickelt.
Im Zuge des gewaltsamen Regierungswechsels in der Ukraine vor acht Jahren musste die russische Führung jedoch eine herbe Enttäuschung erleben. Auch wenn sich die Hauptarchitekten des Putsches jenseits des Atlantiks befanden, erschien die unverhüllte Freude führender EU-Politiker über die Ereignisse wie ein Verrat. Die Diffamierungskampagne und Kooperationsverweigerung anlässlich der vermeintlichen Vergiftung Alexei Nawalnys markierte schließlich das Ende der besonderen Beziehung zwischen Moskau und Berlin/Paris.
Verständlicherweise erwartet die russische Regierung angesichts der jüngsten Erfahrungen nicht, dass Deutschland und Frankreich als Fürsprecher russischer Sicherheitsinteressen auftreten. Dennoch wäre es aus taktischen Erwägungen zielführender, zuerst dort um einen positiven Widerhall und Mitstreiter zu werben, wo eine größere Bereitschaft zum Entgegenkommen besteht. Hierzu gehören zweifellos – auch wegen der eigenen Betroffenheit – die großen Nationen der "alten" EU. Mit wohlwollenden Statements aus Berlin und Paris gewappnet wäre der Gang nach Washington sicherlich erfolgversprechender.
Trotzdem wandte sich die russische Führung mit ihren Sicherheitsforderungen direkt an die US-Administration und ließ die europäischen Politiker außen vor. Nach manchen Interpretationen wollte sie ihre Verärgerung darüber ausdrücken, dass diese sich in Konfliktlagen nahezu bedingungslos US-Vorgaben unterwerfen, anstatt eine eigene interessengeleitete Politik zu betreiben. Offiziell hieß es aus Moskau, dass man genug unverbindliche Erklärungen und wohlklingende Bekundungen vernommen habe und nun schriftliche Garantien erwarte.
Da Wladimir Putin und seine Regierungsmannschaft in der Vergangenheit wiederholt mit taktischem Geschick glänzten, kann ausgeschlossen werden, dass sie sich bei der Entscheidung einer direkten Kontaktaufnahme zu den USA von Enttäuschungen oder Geltungsdrang leiten ließen oder Naivität offenbarten. Vielmehr gingen sie bewusst ein höheres Risiko ein, dass ihre sicherheitspolitischen Forderungen zurückgewiesen werden. Dies verlangt eine Erklärung.
Keine Illusionen auf russischer Seite
Kaum dürfte die russische Führung Illusionen gehegt haben, ihre Initiative würde im Westen auf fruchtbaren Boden stoßen. Diese Annahme wird durch eine Lageeinschätzung in der neuen Sicherheitsstrategie untermauert, die im Sommer letzten Jahres in Kraft trat.
Der Westen wird darin als feindselig beschrieben. Er möchte seine Dominanz mit allen verfügbaren Mitteln verteidigen und scheut nicht einmal vor Völkerrechtsbrüchen zurück, wie dies aktuell durch die Stationierung von Militär in Syrien und dem Irak gegen den Willen der gewählten und international anerkannten Regierungen geschieht. Da Russland sich dem Westen nicht unterordnet, wird es schikaniert und diffamiert.
Indes wird die Überzeugung geäußert, dass das Land ausreichend militärisch gewappnet ist. Größere Bedrohungen werden im Wirtschafts- und Finanzsektor lokalisiert. Um diese abzuwehren, werden weitgehende Autarkie und eine intensivere Kooperation mit nichtwestlichen Staaten angestrebt. Als wichtigste Partner benennt das Dokument China und Indien. Ebenso starke Aufmerksamkeit wird intern aufbrechenden Konflikten eingeräumt. Diesen soll mit einer Hebung der Lebensqualität, einem konsequenten Kampf gegen Korruption, größerer Bürgernähe und einer Stärkung von Gemeinsinn und Verantwortungsgefühl vorgebeugt werden. Westlich-liberale sollen durch traditionelle russische Werte ersetzt werden.
Da im gesamten 44-seitigen Dokument keine Hinweise auf die Notwendigkeit einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur zu finden sind, verbleiben für die russische Initiative aus dem letzten Dezember nur zwei Erklärungen. Entweder hat es zuvor dramatische Veränderungen der politischen Lage gegeben, was ausgeschlossen werden kann. Oder die russische Führung hielt den Zeitpunkt für geeignet, die fundamentale Richtungsentscheidung nicht mehr länger aufzuschieben.
Es geht dabei um die zentrale Frage, ob es weiterhin die Mühe wert ist, auf eine Kooperation mit dem Westen zu setzen. Durch den direkten Kontakt zur US-Administration hoffte die Moskauer Führung, eine schnelle und klare Antwort zu bekommen. Die europäischen Staatslenker hätten hingegen widersprüchliche Signale ausgesendet und sich einer Hinhaltetaktik bedient, bevor sie schließlich auf den Washingtoner Standpunkt eingeschwenkt wären.
Zugleich kann Russland mit dem Vorschlag einer europäischen Sicherheitsarchitektur im Westen um Sympathien werben. Eine Umsetzung des russischen Plans würde nicht nur die militärischen Fronten beruhigen, sondern hätte zweifellos eine friedensstabilisierende Wirkung. In einem späteren Schritt könnte sogar ein Kompromiss zum Status der Krim wie die Unterscheidung zwischen de facto (Russland) und de jure (Ukraine) akzeptiert werden, den Egon Bahr vorgeschlagen hatte. Eine schrittweise Rückkehr zu vertrauensvollen zwischenstaatlichen Beziehungen wäre möglich. Die wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Kooperation könnte ausgebaut werden, wovon der gesamte europäische Kontinent profitieren würde.
Dass der Westen sich querstellen würde, hat die russische Führung im Voraus geahnt. Dabei ging es letztlich nicht um die Frage, ob die Sicherheit Russlands bedroht ist. Angesichts seiner Atomwaffen-Zweitschlagkraft kann sich das Land auch dann in Sicherheit wiegen, wenn die USA den Vorsprung bei Hyperschallwaffen eingeholt haben und bei der Militarisierung des Weltraums Fortschritte machen.
Eine Integration der Ukraine in NATO-Strukturen würde zwar angesichts der kürzeren Vorwarnzeit neue Gefahren bei versehentlichen Vorkommnissen und Fehlinterpretationen heraufbeschwören. Der Westen trägt jedoch dasselbe Risiko, sodass auf beiden Seiten ein Interesse an notwendigen Vorkehrungen besteht.
Die Reaktionen des Westens
Mit seiner Initiative hat Moskau den westlichen Staaten eine letzte Chance geboten, auf seinem bereits in östliche Richtung beschrittenen Weg Halt zu machen und vielleicht sogar umzukehren. Das geforderte europäische Sicherheitssystem knüpft dabei an Vorstellungen an, wie sie während der Wende Anfang der 1990er artikuliert wurden. Damals widersetzten sich die USA, weil Sicherheitsgarantien im Rahmen der OSZE die NATO obsolet gemacht hätten. Das europäische Gewicht hätte gegenüber dem US-amerikanischen erheblich zugenommen.
Je länger die westlichen Führer darauf warten, die ausgestreckte Hand Russlands zu ergreifen, desto mehr wird es seine Kooperation mit China und anderen freundlich gesonnenen Staaten vertiefen. Bald wird der Zeitpunkt erreicht sein, an dem die russische Seite nicht mehr zu einer Umkehr bereit ist. Die von Moskau vorgeschlagene Frist von zwei Jahren gilt nur für den Fall, dass sich der Westen zu ernsthaften Verhandlungen aufrafft.
Tatsächlich
gab es mehrfach zaghafte Versuche, russischen Interessen
entgegenzukommen. Donald Trumps anfängliche Bereitschaft zur Versöhnung
war von der Intention geleitet, den Hauptkontrahenten China global zu
isolieren. Zwar gebärt sich die gegenwärtige US-Administration ebenso
China-feindlich, sie hält jedoch gleichzeitig am Feindbild Russland
fest. Dagegen agieren die Europäer aufgeschreckt, nachdem sie die
Demütigung überwunden haben, die ihnen die russische Missachtung
zugefügt hat. Aktuell sehen sich Frankreich und Deutschland veranlasst,
ihre Bemühungen zur Lösung der Ostukraine-Krise zu intensivieren.
Jedoch ist nur dann mit einem Erfolg zu rechnen, wenn Kiew mitzieht und
seine Verpflichtungen aus Minsk II erfüllt.
Mit der russischen Sicherheitsinitiative hat sich der Zwist zwischen Tauben und Falken innerhalb der politischen Führungskreise des Westens verschärft. Dabei drängen nicht nur – wie bislang – kooperationswillige Kräfte aus Wirtschaft und Gesellschaft auf Konfliktminderung, sondern auch gestandene Realpolitiker und führende Militärs. Einige halten die Forderungen Russlands für berechtigt, da auf den OSZE-Gipfeln von Istanbul 1999 und Astana 2010 die Unteilbarkeit von Sicherheit vertraglich vereinbart wurde. Andere wollen eine unkontrollierbare Eskalation vermeiden, die in einen militärischen Zusammenstoß übergehen und die NATO mit hineinziehen könnte. Da sich die potenziellen Gefahrenregionen in russischer Nachbarschaft befinden, hätte der Westen aufgrund der Geografie die schlechteren Karten.
Russlands aktivere Interessenpolitik
Eine ablehnende Haltung des Westens zu den russischen Vorschlägen kann der Moskauer Führung als Anlass dienen, eigene Sicherheitsinteressen fortan konsequenter zu verfolgen. Was mit der Übernahme der Krim im Jahr 2014 bereits umgesetzt wurde, ließe sich anderswo wiederholen. Wie bisher würde Russland darauf bedacht sein, seine Schritte als Reaktion auf ungerechtfertigte Aktivitäten der Gegenseite legitimieren zu können.
Dies war bei der Gewährung der russischen Staatsbürgerschaft an bislang etwa 800.000 Bürger der Ostukraine der Fall. Vorausgegangen war die Weigerung Kiews, abgelaufene Pässe zu verlängern und neue auszustellen. Russland verschaffte sich hierdurch eine Grundlage, bei einem ukrainischen Eroberungsfeldzug gegen die abtrünnige Region im Osten des Landes militärisch einzugreifen. Dazu dürfte es aber erst kommen, nachdem ukrainische Einheiten die in Minsk II vereinbarte Demarkationslinie unter den Augen von OSZE-Beobachtern überschritten haben.
Eine Invasion mit eigenen Truppen wie im Fall Georgiens 2008 wäre kaum nötig, da bereits durch Beschuss mit Präzisionsraketen beträchtlicher Schaden etwa auf Nachschublinien und in Waffendepots angerichtet werden kann. Sollte die Ukraine die russischen Angriffe erwidern, könnte die Antwort in vernichtenden Schlägen bis tief ins ukrainische Hinterland bestehen. Ebenso dürfte Russland militärisch aktiv werden, wenn die Kiewer Führung Aufstände der Zivilbevölkerung in den russischsprachigen Regionen niederzuschlagen beabsichtigt. Solche Aktivitäten würden sich auf einem Niveau bewegen, das der US-amerikanische Präsident Joe Biden nach eigenen Aussagen nicht zum Anlass nehmen würde, scharfe Sanktionen zu verhängen.
Zum Vergleich sei darauf hingewiesen, dass Israel regelmäßig Stellungen der Hisbollah in Syrien mit Raketen attackiert, obwohl niemand unmittelbar bedroht wird. Da der Westen hierbei beide Augen zudrückt, kann er vergleichbare Schläge der russischen Armee kaum glaubwürdig anprangern.
Wirkung von Sanktionen
Die Sanktionsfrage dürfte aus russischer Sicht den kritischsten Aspekt bilden. Wirtschaftliche Schwierigkeiten wären nicht zu vermeiden, wenn etwa die Lieferung von Autoersatzteilen und elektronischen Komponenten eingestellt würde. Ebenso hätte ein bedeutender Rückgang der Exporterlöse einschneidende Folgen. Dagegen wird die häufig thematisierte Nichtinbetriebnahme von Nord Stream 2 von Wirtschaftsexperten eher als symbolischer Akt angesehen. Auch dürfte Russland eine SWIFT-Abkopplung umschiffen können.
Gleichwohl wäre der Schaden für einen Großteil der westeuropäischen Volkswirtschaften erheblich. Von Sanktionen gegen Russland wären besonders jene Länder betroffen, deren Unternehmen hochgradig auf dessen Markt engagiert sind. In russischen Regierungskreisen scheint daher die Einschätzung vorzuherrschen, dass nur bescheidene Maßnahmen zu erwarten sind, zumal es innerhalb der politischen Eliten des Westens heftige Kontroversen gibt.
Drohen härtere Sanktionen, dann müssen die eigenen Bürger frühzeitig auf persönliche Opfer vorbereitet werden. Die an den Westen gerichteten Sicherheitsforderungen dienen somit auch innenpolitischen Zwecken. Deren Ablehnung durch die westlichen Regierungen würde von russischen Politikern und Medien genutzt werden, um patriotische Gefühle zu wecken.
Je stärker die russische Kooperation mit den Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas voranschreitet, desto geringer ist der Schaden durch westliche Sanktionen. Als Folge werden sich russische Entscheidungsträger immer weniger genötigt sehen, auf Befindlichkeiten des Westens etwa in Wertefragen Rücksicht zu nehmen. Bedienen sich die Vertreter Russlands bislang diplomatischer Umgangsformen und versöhnlicher Töne, so werden Polemik und verbale Attacken gegen westliche Politikakteure zunehmen.
Zusammen mit China, Iran und den innerasiatischen Republiken bildet Russland einen Wirtschaftsraum, der die NATO- und EU-Staaten nicht nur bevölkerungs- und flächenmäßig übertrifft, sondern auch über eine höhere Dynamik und einen größeren Ressourcenreichtum verfügt. Hat sich Moskau bislang am Westen orientiert, so wird sich der Westen auf mittlere Sicht Russland und Asien zuwenden müssen, wenn er nicht zurückfallen will."
Quelle: RT DE Bernd Murawski