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BERLINER MORGENPOST: Die Arbeitswelt wird vielfältiger

Archivmeldung vom 24.06.2010

Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 24.06.2010 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.

Freigeschaltet durch Thorsten Schmitt

Unsere Arbeitswelt wird immer bunter und vielfältiger, man könnte auch sagen: immer unübersichtlicher. Das spiegelt sich auch in den Tarifverträgen wider. Schon längst nicht mehr können Branchen, Unternehmen und Arbeitnehmer über einen Kamm geschoren werden. Diese Einsicht ist nun auch beim Bundesarbeitsgericht in Erfurt angekommen. Den alten Grundsatz "ein Betrieb, ein Tarifvertrag" haben sie ad acta gelegt.

Durchlöchert war dieses Prinzip schon längst. Mit dem Motto "einer für alle" wollten sich Klinikärzte, Lokomotivführer, Piloten und Fluglotsen nicht mehr abfinden - und verhandelten streitlustig auf eigene Faust. Sehr zum Frust der konkurrierenden Großgewerkschaften - und auch der Arbeitgeber. Die Anhänger der Tarifeinheit malen nun den Untergang des Tarifsystems an die Wand, ja den Untergang der sozialen Marktwirtschaft und des sozialen Friedens überhaupt. Sie warnen vor "englischen Verhältnissen", vor Splittergewerkschaften, die sich mit Dauerstreiks gegenseitig befehden und ganze Unternehmen lahmlegen könnten. Diese Horrorszenarien sind übertrieben. Das Phänomen der Spartengewerkschaften konzentriert sich bislang in Ex-Monopol-Unternehmen des öffentlichen Sektors, bei der Bahn, im Flugverkehr und im Gesundheitswesen. Den Unternehmensleitungen - und auch den Großgewerkschaften - dieser ehemaligen Staatsmonopolisten gelang es nicht, ihre hoch qualifizierten "Funktionseliten" nach der Privatisierung adäquat zu bezahlen und an sich zu binden. In der Industrie, die im harten internationalen Wettbewerb steht, haben sich dagegen keine Spartengewerkschaften gebildet. Die großen Industriegewerkschaften tragen der neuen Vielfalt in den Unternehmen und der zunehmenden Differenzierung auch zwischen den Betrieben längst mit Öffnungsklauseln Rechnung, die Abweichungen vom starren Tarifvertrag erlauben. Gerade vor diesem Hintergrund wirkt das Hohelied auf die "Tarifeinheit", das jetzt so lautstark gesungen wird, doch reichlich überholt. Wenn Arbeitgeber und Gewerkschaftsbund nun in seltener Eintracht nach dem Gesetzgeber rufen, um die Tarifeinheit zu retten, verfolgen sie in erster Linie eigene Interessen. Die Arbeitgeber fürchten die Kampfes- und Streiklust der Spartengewerkschaften. Bahn, Lufthansa und kommunale Kliniken können davon ein Lied singen. Und die DGB-Gewerkschaften würden sich gern der lästigen Konkurrenz der Kleinen entledigen. Doch der Trend zur Vielfalt in einer differenzierten Arbeitswelt lässt sich nicht aufhalten. Die Politik sollte sich davor hüten, den Forderungen nachzugeben und die Richter zu korrigieren. Frischer Wind und mehr Wettbewerb tut auch dem deutschen Tarifsystem gut, in dem sich Arbeitgeber und große Gewerkschaften viel zu lange bequem eingerichtet haben.

Quelle: BERLINER MORGENPOST

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