WAZ: Was neu ist an der Steuerdebatte
Archivmeldung vom 13.05.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWas ist eigentlich neu an der neuerlichen Steuer-Debatte? Steuersenkungen wurden schon immer gefordert. Und selbstredend waren die Wirtschaftsverbände dabei immer vorneweg. Um die Wirtschaft im Globalisierungskampf zu entlasten, hieß es. Oder neue Jobs zu schaffen. Oder, von links: Um den Geringverdienern mehr Netto vom Brutto zu verschaffen.
Neu ist, dass nun von alldem nicht mehr die Rede ist. Dafür darf
sich jene Schicht über ihre Wiederentdeckung freuen, die, salopp
gesagt, den Laden schon immer am Laufen hielt: Deutschlands Mitte.
Über Jahrzehnte gab es die Mitte aus Politikersicht vor allen Dingen
in Sonntagsreden, praktische Politik, besonders bei Steuern und
Abgaben, wurde gegen die Mitte gemacht. Und allen wohlfeilen
Bekundungen zum Trotz hatten Familien darunter am meisten zu leiden.
Der Wind hat sich gedreht. Von der Mittelschicht ist plötzlich
voller Sorge die Rede als "bedrohte Mitte". Die Mitte, das sind nun
auf einmal wieder die "Leistungsträger". Allzu lange ist es nicht
her, da durften Mitte-Vertreter noch als "Besserverdiener"
verunglimpft werden. Es wurden ausgerechnet jene beschimpft, die dem
Staat die meisten Steuern zahlen. Das sind gerade nicht die oft
zitierten Millionäre. Es ist der ledige Normalverdiener, der heute 52
Prozent an Zinsen und Abgaben zahlt. Es sind die Zahler des
Spitzensteuersatzes, den heute schon zahlt, wer nur wenig mehr als
doppelt so viel verdient, wie der deutsche Durchschnitt. Wenn sich
aber die Zahl jener in den vergangenen zehn Jahren (auf 800 000)
verdoppelt hat, die mit dem Spitzensatz belegt werden, dann kann man
diese immer breiter werdende Mitte schlecht immer weiter diffamieren.
Zu offensichtlich ist, wie sehr der Steuerstaat auf diese Menschen
angewiesen ist: gut verdienende Facharbeiter, Selbstständige und
Angestellte.
Das erklärt, weshalb die CSU mit ihren konkreten Forderungen nach
Entlastungen für die Mitte einen Nerv getroffen hat. Nur darum ist
SPD-Chef Beck nun auf den fahrenden Zug gesprungen, obwohl er damit
den eigenen Finanzminister ebenso düpierte wie seine SPD-Fraktion.
Auch fehlt ihm ein überzeugendes Konzept. Sollte Beck dabei bleiben,
Sozialbeiträge zu senken und dies mit höheren Steuern finanzieren zu
wollen, würde er wieder jener Mitte schaden, der er doch helfen will.
Jedenfalls legt sich auch die Kanzlerin inzwischen in die Kurve.
Das alles ist erfreulich, weil es die öffentliche Wahrnehmung
verschiebt. Die Mitte bekommt wieder eine Lobby.
Quelle: Westdeutsche Allgemeine Zeitung (von Ulrich Reitz)