Westfalenpost: Die große Heuchelei Nicht nur der Sport hat Drogenprobleme
Archivmeldung vom 26.05.2007
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittNur die Telekom-Radler? Nur in strafrechtlich nicht mehr belangbarer Vergangenheit? Lächerlich! Wir dürfen getrost alle Radprofis für gedopt halten - bis zum Beweis des Gegenteils. Mitleid ist nicht angebracht mit Leuten, die mit hoher krimineller Energie versucht haben, sich unerlaubte Vorteile zu verschaffen. Doch dass jetzt nur der Radsport am Pranger steht, ist ungerecht.
Olympische Spiele Peking 2008 - das wird erst ein Dopingfest.
Und wenn mal einer oder eine erwischt wird, ist die öffentliche
Empörung groß. Für kurze Zeit. Dann geht es weiter wie vorher. Weil
in der Empörung so viel Heuchelei steckt. Weil niemand überrascht ist
von Enthüllungen, wie wir sie nun erleben. Weil schon vorher die
wenigsten geglaubt haben, dass Spitzenleistungen wie ein
Pyrenäen-Aufstieg ohne Hilfsleistungen aus der Apotheke zu schaffen
sind.
Was daraus folgt? Dass der ganze Sport ein Drogensumpf ist? Dass wir
uns in moralischem Abscheu von ihm wenden sollten? Das wäre
gleichfalls Heuchelei: Der Profisport ist Teil der
Unterhaltungsindustrie. Und die bietet, was dem Zuschauer gefällt.
Schauspieler lassen sich operieren, Models hungern sich krank,
Rockmusiker geben sich mittels Heroin ein romantisch-kaputtes Image,
Tänzer lassen sich Schmerzen wegspritzen, in der Oper sangen einst
Kastraten. Das ist alles nicht gesund.
Mehr Beispiele gefällig? Von sechs amerikanischen
Literatur-Nobelpreisträgern waren fünf Alkoholiker. Schulkinder
bekommen leistungsfördernde Mittel. Wer mehr Sex will, als der Körper
hergibt, schluckt Viagra. Neu ist das auch nicht. Alkohol beruhigte
das schreiende Baby, Koka-Blätter halfen dem Inka gegen den Hunger.
Nicht nur der Sport hat ein Drogenproblem.
Aber Doping ist Betrug, heißt es. Bloß: Gilt das noch, wenn es alle
tun? Die Tour de France verliert nicht an Spannung, wenn alle
offziell schlucken und spritzen. Und sie wäre weniger verlogen. Doch
eine generelle Doping-Freigabe ist unmöglich, weil es nicht nur um
Erwachsene geht, die mit ihrem Körper machen können, was sie wollen,
sondern vielfach um Kinder und Jugendliche.
Also wird das ungleiche Wettrennen zwischen neuen Doping- und
Analysemethoden weitergehen. Und es wird dabei bleiben, dass die
Kontrollen nicht überall auf der Welt und nicht bei allen Sportarten
gleich streng ausfallen werden. Das ist unbefriedigend. Aber so ist
es eben.
Diese ganzen Tricks und Lügen, die uns die Radszene derzeit so
besonders unsympathisch machen, die erleben wir ja auch in Wirtschaft
und Politik, am Arbeitsplatz und im Straßenverkehr. Die Konkurrenz
ist hart, und jeder will nach oben. Warum sollte ausgerechnet der
Sport einen Moral-Vorsprung haben?
Quelle: Pressemitteilung Westfalenpost