LVZ: zum EM-Halbfinale Deutschland- Türkei
Archivmeldung vom 25.06.2008
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittKein Fußballklassiker, aber ein Spiel mit unterschwelliger Spannung. Was wird passieren - auf dem Rasen in Basel und auf den Straßen und Plätzen in Deutschland? Erwartet uns ein gigantisches deutsch-türkisches Volksfest, oder kommt es zu Ausschreitungen?
Wenn Deutschland im Halbfinale einer Fußball-Europameisterschaft auf die Türkei trifft, ist das kein Spiel wie jedes andere. Die Brisanz haben Bundeskanzlerin Merkel und Bundestrainer Löw erkannt: Die eine wünscht sich ausdrücklich ein faires Spiel, der andere weder Provokationen noch eine Belastung des deutsch-türkischen Verhältnisses. Sogar der Boulevard in beiden Ländern rüstet ab und ruft zu Besonnenheit auf. Das sind vorbildliche Appelle für ein friedliches Miteinander, aber keine Garantie. Sportlich sind die Verhältnisse schnell beschrieben: Deutschland ist gegen die Türken der haushohe Favorit. Aber alles ist möglich im Fußball, und Favoritensterben ist bislang der rote Faden des Turniers. Wie Deutsche und Türken mit dem Ergebnis umgehen, wirft ein Schlaglicht auf den Zustand der beiderseitigen Toleranz. Ausländerfeindliche Gewaltakte auf der einen Seite oder deutschenfeindliche auf der anderen wären ein weiterer Rückschlag auf einem schwierigen Weg. Aber selbst ein friedliches Fußballfest könnte die Integrationsmängel nicht verdecken. Nach dem Spiel ist vor den Problemen, die noch längst nicht gelöst sind. Dabei hilft Schönfärberei nicht weiter, die multikulturelle Gesellschaft ist weitgehend gescheitert. Am besten funktioniert sie übrigens oft im Sport. Viele tausend Türken spielen zusammen mit Deutschen beispielsweise in Fußballmannschaften. Oder an der Imbissbude. Vor die Frage gestellt, "Döner oder Currywurst", werden viele Deutsche und Türken antworten: "Mal so, mal so." Bei ehrlicher Analyse sind solche Gemeinsamkeiten jedoch die Ausnahme. Neue Integrationsanforderungen müssen gestellt werden. Dass ausgerechnet viele türkische Organisationen gegen Einwanderungstests polemisieren, ist kein gutes Zeichen. Die 2,3 Millionen Türken in Deutschland sind die größte Minderheit, aber nur rund eine halbe Million von ihnen besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft. Manche von ihnen sind kulturell hin- und hergerissen. Viele leben in einer Parallelwelt mit eigenen Zeitungen und Satellitenfernsehen. Die wenigsten setzen auf volle Eingliederung, die ihnen dann nicht immer und überall leicht gemacht wird. So werden die allermeisten Türken in Deutschland der türkischen Mannschaft die Daumen drücken, und das ist völlig normal und selbstverständlich. Integration aber ist eine erheblich größere Herausforderung. Für die braucht man viel mehr gegenseitigen Respekt und guten Willen, als sich nach einem Halbfinale nicht zu prügeln.
Quelle: Leipziger Volkszeitung (von Bernd Hilder)