Weser-Kurier:Ein Grenzfall der Demokratie
Archivmeldung vom 07.10.2010
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Freigeschaltet durch Thorsten SchmittEs ist ein bislang einmaliger Vorgang in dieser Republik: Über den Fortgang eines verkehrspolitischen Großprojekts soll in einem Schlichtungsverfahren entschieden werden - wie bei einer Tarifrunde, in der Arbeitnehmerforderung und Arbeitgeberangebot so weit auseinanderliegen, dass Streik droht. Was aber droht in Stuttgart? Machtverlust der schwarz-gelben Regierungskoalition? Das Ende der Zukunftsfähigkeit Deutschlands? Revolution und Bürgerkrieg?
Offenbar alles zusammen denn sonst würden nicht Grünen-Chefin Roth und der liberale Wirtschaftsminister Brüderle dieses Schlichtungsverfahren gleichermaßen prima finden. Und der alte Kämpe Heiner Geißler, der es nun moderieren soll, ist offenbar alternativlos erste Wahl. Schließlich hatte ihn zuerst Claudia Roth ins Gespräch gebracht - noch bevor er gestern von Stefan Mappus, dem bedrängten baden-württembergischen Regierungschef, vorgeschlagen wurde. Geißler hat x-mal Tarifstreitigkeiten geschlichtet. Die Landesregierung akzeptiert ihn, weil er immer noch CDU-Mitglied ist. Die Stuttgart-21-Gegner vertrauen ihm, weil er auch der globalisierungskritischen Organisation Attac angehört. Und alle anderen finden es beruhigend, dass er schon seit 2002 nicht mehr im politischen Geschäft ist - und mit 80 Jahren auch bestimmt nicht mehr dorthin zurück will. Dabei ist seine künftige Aufgabe immens politisch. An seinem Verhandlungsgeschick hängt nicht nur das Schicksal von Ministerpräsident Mappus, sondern auch das von Bahn-Chef Grube und nicht zuletzt von Kanzlerin Angela Merkel. Bringt Geißler einen Kompromiss zustande, der sowohl das Schwabenland befriedet als auch das Projekt Stuttgart 21 rettet, kämen CDU und FDP bei der Landtagswahl im März wohl mit einem blauen Auge davon - und damit auch die Kanzlerin und CDU-Chefin Merkel. In Erklärungsnot wäre die SPD, die das Projekt erst jahrelang mitgetragen hat, dann aber plötzlich den aufwallenden Druck der Straße in einen juristisch höchst fragwürdig konstruierten Volksentscheid umlenken wollte. Der kommt aber nicht. Doch wer hat diejenigen gewählt, die nun für die UmbauGegner auf Augenhöhe mit der Landesregierung in die Schlichtung gehen? Wie verbindlich ist der Schlichterspruch? Wie weit kann er sich vom Ergebnis eines Genehmigungsverfahrens entfernen, dass sich über sieben Jahre hinzog, 14 Einzelpläne umfasste, unzählige Bürgersprechstunden und Erörterungstermine? Dabei wurden 13000 Beschwerden bearbeitet und drei Klagen letztinstanzlich abgewiesen; die Parlamente auf kommunaler, Landes- und Bundesebene waren beteiligt. Die von den Gegnern vorgebrachten Einwände - hohe Kosten, ökologische Folgen, mangelnder Nutzen - gab es in all den Jahren. Nur: Sie konnten weder die Parlamente noch die Gerichte überzeugen. Ist Stuttgart 21 also ein Lehrstück über die Grenzen der repräsentativen Demokratie? Doch Straßenproteste und Bauplatzbesetzungen als letzte Instanz, wenn Teilen der Bevölkerung rechtsstaatlich einwandfreie Entscheidungen nicht passen, sind nicht akzeptabel. Auch dann nicht, wenn der Protest von Schülern und Rentnern mitgetragen wird. Eine demokratisch gewählte Regierung kann also nur ein Schlichtungsergebnis mittragen, das ihre bisherige Politik weitgehend bestätigt. Das weiß auch Heiner Geißler. Also wird er etwas weiße Salbe anbieten: Der Südflügel wird irgendwie erhalten, vielleicht bleiben auch mehr Bäume stehen als geplant. Stuttgart 21 aber wird kommen - und es wird bestimmt nicht billiger werden.
Quelle: Weser-Kurier