FZ: "Eine treffende Wahl"
Archivmeldung vom 18.12.2010
Bitte beachten Sie, dass die Meldung den Stand der Dinge zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 18.12.2010 wiedergibt. Eventuelle in der Zwischenzeit veränderte Sachverhalte bleiben daher unberücksichtigt.
Freigeschaltet durch Thorsten SchmittWut... was?", mag gestern vielen fragend durch den Kopf geschossen sein, als sie vom frisch gekürten "Wort des Jahres 2010" hörten. In der Tat ist der Begriff "Wutbürger" in der öffentlichen Debatte der zurückliegenden zwölf Monate nicht sehr präsent gewesen. Doch je länger man sich das Kunstwort auf der Zunge zergehen lässt, desto mehr Charme entwickelt es - nicht weil es besonders schön wäre, sondern weil es eine gesellschaftliche Entwicklung der jüngsten Zeit auf einen griffigen Nenner bringt.
"Stuttgart 21" hat es nur auf Platz zwei geschafft - vielleicht auch deshalb, weil es als Schlagwort lediglich für einen Teilaspekt einer umfassenderen, aber unorganisierten und noch namenlosen Wutbürger-Bewegung in Deutschland steht. Die Gesellschaft für Deutsche Sprache hat seit über 30 Jahren meist ein feines Gespür für die "Worte des Jahres" bewiesen. Von der "konspirativen Wohnung" (1978) über die "Ellenbogengesellschaft" (1982), "Die neuen Bundesländer" (1990), "Multimedia" (1995) und "Reformstau" (1997) bis zur "Abwrackprämie" im vergangenen Jahr - jeweils hat der Begriff ein gesellschaftlich oder politisches hochrelevantes Thema mehr oder weniger originell und treffend aufgespießt. Der Wutbürger hat in diesem Jahr ohne Zweifel Kontur angenommen. Und zwar längst nicht nur in Stuttgart, wo selbst brave schwäbische Hausfrauen, gutbetuchte Ärzte und Anwältinnen sowie pensionierte Beamte gegen das monströse Bahnprojekt auf die Straße gingen - oft zum ersten Mal in ihrem Leben. Der Wutbürger zeigte auch beim Castor-Transport seine Krallen, beim Rauchverbot in Bayern oder auch beim erfolgreichen Protest gegen die schwarz-grüne Schulreform in Hamburg. Das waren im Charakter völlig andere Protestformen als beispielsweise die ritualisierten Gewaltorgien linksextremer Gruppen zum 1. Mai. Der Wutbürger ist kein "Gewaltbürger". Aber er lässt sich auch nicht auf der Nase herumtanzen und von der Politik für dumm verkaufen. Eine undifferenzierte "Wut" ist dabei sicher nicht das einzige Motiv, vielmehr das Gefühl, als informierter und interessierter Bürger nicht ernst genommen zu werden. Und dass der Wutbürger auch sachlich und fundiert diskutieren kann, hat die Stuttgarter Schlichtung eindrucksvoll gezeigt. Die Politik wäre jedenfalls gut beraten, möglichst viele Wutbürger in ihre Reihen zu integrieren. Eine solche Blutauffrischung kann jeder Partei nur gut tun - und könnte dazu beitragen, dass aus den Wutbürgern des Jahres 2010 nicht am Ende doch noch gewalttätige "Bürgerrevolutionäre" des Jahres 2015 werden.
Quelle: Fuldaer Zeitung