BERLINER MORGENPOST: Verhaltensauffälligkeiten bei Schulkindern
Archivmeldung vom 22.11.2019
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Freigeschaltet durch André OttSo viele Depressionen, so viele Essstörungen, Angstzustände, dazu ein gestörtes Verhältnis zum Körper: Was fehlt Kindern und Jugendlichen heute bloß in dieser Wohlstandsgesellschaft, und wie können wir ihnen helfen?
Mag sein, dass sich die wachsende Zahl psychisch kranker Kinder damit erklären lässt, dass Eltern wie Lehrer viel früher reagieren. Mag sein, dass es in früheren Zeiten hinsichtlich der seelischen Gesundheit Heranwachsender weniger Sensibilität gab. Doch wenn tatsächlich jedes vierte Schulkind Auffälligkeiten zeigt, dann kommt eine unfassbar hohe Zahl an Jungen und Mädchen nicht mit sich und der Gesellschaft klar. Wenn dann noch, wie die Kinder- und Jugendärzte mutmaßen, eine erhebliche Dunkelziffer hinzukommt, ist das tatsächlich ein äußerst verstörender Zustand einer Generation. Das lässt sich nicht mehr abtun mit Sprüchen wie: Früher hatten wir auch viele verzweifelte Kinder in der Klasse.
Bei der Frage nach den Ursachen ist man schnell bei den sozialen Netzwerken und dem öffentlichen Druck, der durch Instagram und Co. aufgebaut wird. Aufmerksame Eltern kennen das: Wenn jugendliche Mädchen sich selbst fotografieren für ein erfolgreiches Selfie, verziehen sie gern ihren Mund zum sogenannten Duckface, einer Schnute, die dem Gesicht einen leicht lasziven Touch gibt. Als weniger albern, aber umso sexyer gilt das "Fish Gape", bei dem der Mund wie ein offenes Fischmaul inszeniert wird. Wird dann noch die richtige Barbie-Pose eingenommen, dann gibt es in der Community eine "Eins" für die Selbstinszenierung.
Dabei gilt: Je näher dran am Influencer-Vorbild man ist, desto besser für die Likes und Shares. Und die sind die Währung, um die es geht. Doch welcher Körper ist so makellos, dass er dem (öffentlichen) Vergleich standhält?
Das ganze Prozedere ist eben anders als früher, als wir experimentierten mit Blondierungen, megakurzen Rüschen-Röckchen und dem allzu sorglosen Griff in die Lidschatten-Dose. Die meisten von uns waren nicht in der Lage, die Versuche der Selbstinszenierung einer breiteren Öffentlichkeit zu präsentieren. Heute hingegen wird die Suche nach einer positiven Bewertung schnell zum größten Problem. Auch wenn Schulen eine Menge mit Aufklärungsaktionen tun und Sozialarbeiter einbinden: Hier ist die kleinste Keimzelle der Gesellschaft gefragt - die Familie. Und da ist eben vieles im Fluss: Vater wie Mutter werden heutzutage voll und ganz vom Beruf in Beschlag genommen, Kinder sind vollkommen beschäftigt mit Ganztagsschule und dem sonstigen Programm.
Ganz abgesehen von sich auflösenden und sich neu formierenden Familien, in denen sich jedes Mitglied erst mal neu finden muss. Wer hat da abends noch Kraft, den Lieferando- und Netflix-Verlockungen zu widerstehen, selbst zu kochen und beim Essen Grundsatzdiskussionen über offene Profile zu führen oder den überdrehten Teenager aufzufangen? Ihm zu helfen, dem Gruppendruck zu widerstehen und eine Haltung zu finden, etwa zu Mobbing, Diskriminierung (auch, um etwa dem Hass auf den eigenen Körper etwas entgegenzusetzen) und Gewalt?
Wer schafft es, den Nachwuchs (und dessen Freunde) nach draußen zum Fußballspielen zu schicken und so lange die Smartphones einzukassieren? Vor lauter Erschöpfung lebt die Familie mitunter wie eine Wohngemeinschaft, über der sich eine wabernde Gleichgültigkeit breitgemacht hat, nach dem Motto: Sollen doch die Schulen den Kampf führen. Der Teenager wird sich schon wieder einkriegen. Die Wahrheit ist: Er kriegt sich eben viel zu oft nicht ein.
Quelle: BERLINER MORGENPOST (ots) von Birgitta Stauber